“The visible world is no longer a reality and the unseen world is no longer a dream.”
— W.B.Yeats 
«Die Auswirkungen der Technik zeigen sich nicht in Meinungen und Vorstellungen, sondern sie verlagern das Schwergewicht in unserer Sinnesorganisation oder die Gesetzmäßigkeiten unserer Wahrnehmung ständig und widerstandslos. Der ernsthafte Künstler ist der einzige Mensch, der der Technik ungestraft begegnen kann, und zwar nur deswegen, weil er als Fachmann die Veränderungen in der Sinneswahrnehmung erkennt.»

— McLuhan [1 

Wieder einmal erregt die virtuelle Realität (VR) das öffentliche Bewusstsein und die kollektive Vorstellungswelt der Kreativen - ganz zu schweigen von den Technologie-Giganten und Start-up Unternehmen, die gegenwärtig ihre rasante Entwicklung durch eine kombinierte Investition von Finanz- und Humankapital vorantreiben. Nahezu 50 Jahre, nachdem der Informatiker Ivan Sutherland sich erstmals sein «Schwert des Damokles» aufgesetzt hatte, das allgemein als der Vorfahr der modernen virtuellen Realität und der Augmented Reality Head-Mounted-Displays (HMDs) gilt, und mehr als 30 Jahre, nachdem die zweite grosse Welle der Erforschung und Entwicklung der virtuellen Realität uns frühe Beispiele für Anwendungen in Industrie (Flugsimulatoren), Unterhaltung (Spiele) und Kunst (frühe Werke von Künstlern wie Char Davies und Brenda Laurel) geliefert hat, ist diese Technologie wieder mit voller Kraft zurückgekehrt. 

 Als Direktorin von NEW INC, der Entwicklungsstation für Kunst, Design und Technologie am New Museum, war ich im Laufe der letzten drei Jahre beständig von Spannweite, Tempo und Ausmass des Eindringens der VR in künstlerische Gemeinschaften beeindruckt. Seitdem die ersten Oculus Development Kits sich ihren Weg zu kreativen Technologen gebahnt haben, beobachte ich, wie bildende Künstler, Filmemacherinnen, Trickfilmzeichner, Kuratorinnen, Pädagogen, Architekten, Musikerinnen, Modedesigner, Aktivisten, Dichterinnen, Journalistinnen, Tänzer, Drama- turginnen und Museumsfachleute sich diesem aufstrebenden Medium zuwenden. Dabei zieht sie dessen Neuartigkeit ebenso sehr an wie dessen Fähigkeit, in den Betrachtern einen noch nie dagewesenen Sinn für Immersion, Verkörperung, Präsenz und Aktivität zu fördern. Auch wenn die Technologie noch ein wenig unausgereift ist und es ihr oftmals nicht gelingt, die Versprechungen des aufgeblähten Hypes, der sie umgibt, einzulösen, und auch wenn viele der Inhalte, die sich langsam über das «Demo»-Stadium hinaus hin zu vollständig artikulierten Erfahrungen und Narrationen bewegen, die aussergewöhnliehsten und einmaligen Eigenschaften der VR anscheinend weitgehend ignorieren oder nur unzureichend nutzen, so lässt sich doch kaum leugnen, dass es sich dabei tatsächlich um ein sehr leistungsfähiges neues Medium handelt.

Der Kern seiner Kraft und seines Potenzials liegt in der tiefen Verbindung mit unseren Wahrnehmungsfähigkeiten, wobei unser Sensorium im grösstmöglichen Masse genutzt wird (visuelle, akustische, taktile und kinetische Inputs und Outputs), um eine Umwelt zu erforschen, die uns vollständig umgibt und dennoch von unserer tagtäglich erlebten Welt getrennt und von ihr verschieden ist. Keine andere Form von immersiven Medien kann das bieten. Diese direkte Verbindung mit unseren Sinnen verleiht der virtuellen Realität eine unheimliche Fähigkeit, «das Gehirn zu überlisten», unsere Zweifel ausser Kraft zu setzen und uns zu dem Glauben zu zwingen, in der virtuellen Welt vor uns tatsächlich in einem derart überzeugenden Masse anwesend zu sein, dass bei uns physiologische Reaktionen auf virtuelle Stimuli ausgelöst werden können – wie etwa Angst- oder Schwindelgefühle, wenn man am Rande eines virtuellen Abgrundes steht oder ein Ausweichverhalten, um zu vermeiden, von virtuellen Objekten «getroffen» zu werden. Dies hat moderne Psychologinnen dazu gebracht, ihre Verwendung als verhaltenstherapeutisches Werkzeug zu erforschen, um alles von Autismus über Phobien und PTBS bis hin zu Schmerzzuständen zu behandeln. Ärzte, die sich auf die «kognitive Technologie) spezialisiert haben wie Albert «Skip» Rizzo, Direktor des Medical Virtual Reality Institute an der University of Southern California, der die virtuelle Realität seit mehr als einem Jahrzehnt als therapeutisches Werkzeug einsetzt, vertrauen auf VR-Simulationen, um eine Art von Konfrontationstherapie durchzuführen.[2] Dabei werden die Patienten aufgefordert, sich einer traumatischen Erfahrung oder Situation auszusetzen, um sie dadurch zu überwinden. Die Ergebnisse waren bemerkenswert, wobei der Fortschritt der Patienten und ihre Genesung nach mehreren Monaten konsequenter Behandlung mittels MRT-Gehirn-Scans dokumentiert wurden.

Angesichts dieser Kraft der VR kann es nicht überraschen, wenn Künstlerinnen und Künstler, die ja normalerweise in den physischen und auch philosophischen Grundlagen der Sinneswahrnehmung geschult sind, sich zu diesem neuen Medium hingezogen fühlen. Es ist das «Naheliegendste», was wir haben, um das innere Funktionieren unseres Bewusstseins, unserer Phantasie oder unserer subjektiven Erfahrung genau wiedergeben zu können. Überdies verändert diese Technologie grundlegend die Perspektive; sie erlaubt uns, wie Tina Sauerländer, die Kuratorin von «Unframed World», feststellt, über reale und zugleich auch imaginäre «Seinszustände in unserer Welt heute nachzudenken». Das wahre Potential der virtuellen Realität besteht nach meiner Meinung darin, dass sie es uns ermöglicht, absolut andersartige Umwelten und Perspektiven zu erfahren und die dominanten und gewohnheitsmässi- gen Wahrnehmungszustände zu hinterfragen, wie wir sie kennen und verstehen. Jüngste künstlerische Projekte wie «The Sky Is A Gap» von Rachel Rossin erlauben uns, eine andersartige Beziehung zur Zeit und zur vom Menschen geschaffenen Umwelt zu erforschen, wobei wir unseren Körper einsetzen, um in surrealen Landschaften gleichzeitig durch Zeit und Raum zu navigieren. Andere Projekte wie «Tree» von Milica Zee und Winslow Porter tragen zur Befreiung von unserer typischen, auf den Menschen bezogenen Perspektive bei: Sie lassen uns für kurze Zeit die Existenz als Baum im Regenwald erfahren, indem wir dessen Entstehen, Leben und Tod in einer zwölfminütigen Erfahrung verfolgen, wobei das Bewusstsein für Entwaldung und Klimawandel mittels einer instinktiven, elementaren Begegnung geschärft wird.

Char Davies, Tree Pond, from Osmose, 1995.
Digitaler Still in Echtzeit erfasst durch HMD (Head-Mounted-Display) während der Live-Performance der immersiven virtuellen Umgebung Osmose.

Viele künstlerische Untersuchungen der virtuellen Realität aus jüngster Zeit sind jedoch noch in Entwicklung begriffen und nicht ausgereift. Um ihr Potenzial als künstlerisches Medium wirklich berücksichtigen und verstehen zu können, sind wir besser beraten, wenn wir auf das Werk von frühen VR-Künstlern wie Char Davies zurückblicken, die während der Neunziger- und frühen Nullerjahre mehr als ein Jahrzehnt damit verbracht hat, an Erfahrungen der virtuellen Realität zu arbeiten, und Kunstwerke schuf, die viel besser durchdacht, weitaus phantasievoller und anspruchsvoller waren als die meisten Beispiele, die wir bislang gesehen haben. Hervorzuheben ist dabei auch, dass Davies Werk eine Grössenordnung und eine Öffentlichkeitswirkung erzielen konnte, die für viele zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler im Bereich der VR bisher undenkbar waren – der Grund dafür liegt teilweise auch in der langen Karriere der Künstlerin. Mehr als 35.000 Besucher wurden in den Jahren zwischen 1995 und 2007 in ihre Werke «Osmose» und «Ephémère» jeweils individuell einbezogen. Davies schreibt: 

«Für mich ist der virtuelle Raum eine raumzeitliche «Arena», in der mentale Modelle oder abstrakte Konstrukte der Welt eine (visuelle und akustische) virtuelle Verkörperung in drei Dimensionen erhalten und durch die Zeit animiert werden können.» [3]

Davies betrachtet diesen Raum gleichfalls als eine Möglichkeit, um auf eine eher holistische Weise ihre eigene subjektive und intuitive Erfahrung der Welt als «immaterielles, wechselseitig verbundenes und dynamisches Fließen» [4] darzustellen. Sie hatte versucht, dies durch Malerei und zweidimensionales Bildmaterial von 3D-Grafik zu erreichen, konnte es aber erst dann vollständig verwirklichen, nachdem sie begonnen hatte, in der virtuellen Realität zu arbeiten; dabei gestaltete sie zugleich Erfahrungen, die die Teilnehmer mittels der subjektiv besetzten körperlichen Erfahrung des immersiven virtuellen Raumes in besseren Kontakt mit ihren eigenen Wahrnehmungskräften bringen.

In ihrem Werk präsentiert Davies eine Annäherung an die virtuelle Realität, die sich radikal von der unterscheidet, die ihre Kollegen in der Computerwissenschaft verfolgen: Sie versucht, der Tendenz zu widerstehen, in der VR «ein Mittel zum Entfliehen in eine entkörperlichte techno-utopische Fantasie» zu sehen, und betrachtet sie stattdessen als ein Mittel, das

«eine vorübergehende Befreiung von unseren gewohnheitsmäßigen Wahrnehmungen und kulturell gefärbten Vorstellungen vom Dasein in der Welt ermöglicht, um uns – und sei es auch noch so kurzzeitig – in die Lage zu versetzen, uns selbst und die Welt um uns herum frisch wahrzunehmen.» [5]
Sie widersetzt sich der typischen Ästhetik eines «hartkantigen Objekts im leeren Raum» [6] zugunsten transparenter, vielschichtiger und sich durchdringender Bildmaterialien, die ihrem Werk eine ätherische Qualität verleihen und zu «wahrnehmungsmässiger Mehrdeutigkeit» [7] anregen. Sie tauscht Joysticks, Pointer und Handschuhe ein gegen einfache, intuitive Arten der Interaktion und Navigation wie Atmen und Schwerpunktverlagerung. Dadurch ist sie in der Lage, beim Betrachter gleichzeitig den Sinn für Verkörperung zu intensivieren, wobei sie auch neue Sensibilitäten anbietet, die Alternativen zur üblichen Tendenz eröffnen, Dominanz, Herrschaft und Kontrolle als Mittel einzusetzen, um in der Welt zu existieren. Davies versucht in ihrer Arbeit, die direkte Verbindung der VR zu unserem Wahrnehmungsapparat gezielt zu nutzen, um uns neue mentale Modelle für das Verstehen und Erfahren der uns umgebenden (realen und auch virtuellen) Welt zu präsentieren. 

Es ist praktisch unmöglich, die virtuelle Realität und ihre simulierten Welten zu besprechen, ohne dabei die Werke von Jean Baudrillard zu erwähnen. Baudrillard argumentierte bekanntlich, dass unsere Gesellschaft jegliche Realität und Bedeutung durch Symbole ersetzt habe und dass die menschliche Erfahrung lediglich eine Simulation der Realität sei.

«It is no longer a question of imitation, nor duplication, nor even parody. It is a question of substituting the signs of the real for the real.»[8]
Er kritisiert, wie Kultur und Medien unsere wahrgenommene Realität konstruieren, indem sie Wünsche erschaffen und uns immer weiter von den ursprünglichen Referenten wegführen, die sie eigentlich darstellen sollten. Auch wenn Baudrillard Simulationen und Simulakren als gefährlich ansieht, sofern sie uns vom Realen hin zu gefälschten Symbolen und rekursiven Modellen locken, die von einem Ursprungspunkt verschoben wurden, ist es dennoch möglich, in der Arbeit von Davies zu erkennen, wie diese Simulationen, wenn sie künstlerisch genutzt werden, uns eine Möglichkeit bieten, neue Wahrnehmungszustände zu entwickeln, die dissoziative mentale Modelle zugunsten neuer zu demontieren versuchen. welche uns mit unserem Sensorium, mit unserer natürlichen Umwelt und miteinander verbinden wollen.  

Notes

1. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle «Understanding Media». Düsseldorf u.a. 1992. S. 30.       
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2. Vgl. Rizzo, Albert: Bravemind: Virtual Reality Exposure Therapy. University of Southern California. 2005 bis heute.
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3. Frei ins Deutsche übersetzt aus: Davies, Char: Virtual Space. In Penz, François / Radick, Gregory / Howell, Robert (Hg.): Space: in Science, Art and Society. Cambridge, England 2004, S. 69-104, hier S. 69.
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4. Ebd., S. 73.
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5. Ebd. S. 69.
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6. Ebd. S. 85.
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7. Ebd. S. 73.
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8. Baudrillard, Jean: Simulacra and Simulation. Ann Arbor 1994, p.2
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This article originally appeared in the exhibition catalogue for "The Unframed World: Virtual Reality as Artistic Medium," organized by Tina Sauerländer at HeK Basel, 2017 

Julia Kaganskiy is the director of NEW INC, the New Museum's incubator for art, technology, and design, has started the art, culture, and technology meetup group ArtsTech in 2008.

http://www.newinc.org
 

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Last verified: feb 20th, 2024.