Wie ein Taucher gleite ich einsam durch künstliche Szenarien: ozeanische Wassertiefen, flirrende Schwaden computerberechneter Nebelbänke, durch Insektenscharen und das dunkle Dickicht eines Waldes. Dank der Stereomonitore unmittelbar vor meinen Augen gelange ich unter die Erde, plastisch erscheinen Gestein und Wurzelwerk, schliesslich dringe ich gar in den Mikrokosmos eines opalschimmernden Ahornblattes vor ...

Unterwegs durch die ozeanische Kunstwelt von Osmose: Mit gefüllter Lunge schwebt man empor, beim Ausatmen sinkt man nieder.
[Digital frame captured in real-time through head-mounted display during live performance.] †

Das ist die Welt von Osmose. So heisst die zur Zeit fortgeschrittenste Installation der Virtuellen Realität (VR), eine Simulation von nicht weniger als einem Dutzend umfangreich verzweigter Natur- und Texträume. Die 42jährige Kanadierin Char Davies zeigt mit Osmose, wohin dieses Genre der Computerkunst gehen kann. Sie hat sich weit von den grobschlächtigen, kantigzitternden Polygonwelten aus den Anfängen der VR abgesetzt. Sanft und fliessend verlaufen die Ubergänge zwischen den Osmose-Welten. Es ist der alte Künstlertrick Sfumato, die Unschärfe, die das Auge täuscht und Assoziationen eröffnet.

Im Zentrum von Osmose steht auf einer Lichtung repräsentativ und isoliert ein blattloser Baum. Kristallin schimmern Stamm und Astwerk: er lässt sich durchblicken und durchwandern. Der Baum, in nahezu jeder Mythologie als Symbol für Leben, Fruchtbarkeit und Regeneration bekannt, erscheint nun auch im Virtuellen. Dennoch zielt Char Davies nicht darauf ab, Natur zu ersetzen. Ihre Repräsentationen erscheinen weder realistisch noch abstrakt. Osmose ist eine mineralische und vegetabile, eine fluide, ungreifbare Sphäre.

Zwei Textwelten erscheinen in diesem Natursimulakrum: Einerseits 20 000 Zeilen Programmcode, die das Werk erzeugen und die in der künstlichen Welt zu kolossalen Säulen geordnet zu besichtigen sind. Auf der anderen Seite ein Raum, angefüllt mit schwergewichtigen philosophischen Texten von Bachelard, Heidegger und Campbell zu den Begriffen Natur, Technik, Körper.

Drei Hochleistungsrechner — Onyx-Workstations von Silicon Graphics im Wert von mehr als einer Million Dollar — arbeiten da für einen einzigen Benutzer. Seine Bewegungen und die Richtung seines Blicks legen die Reise durch den künstlichen Raum fest: die Software erzeugt aus diesen Vorgaben unmittelbar die Ansichten der künstlichen Welt. Im selben Sekundenbruchteil errechnet sie auch den aktuellen Raumklang. Der Komponist Rick Bidlack arrangierte ihn aus zwei menschlichen Stimmen als sinfonisches Gefüge.

Der gesamte Projektaufwand blieb trotzdem überschaubar. Wo sonst fur VR-Kunst oft zehn Programmierer gleichzeitig werken, waren mit Osmose nur drei Menschen ein halbes Jahr lang beschäftigt.

Char Davies hat ihre Laufbahn als Malerin und Filmemacherin begonnen. 1987 verschrieb sie sich der Computergraphik und trat in das Softwarehaus Softimage in Montreal ein. Eine Pionierfirma: drei Mitarbeiter, die achtzig Stunden in der Woche arbeiteten und von der Hand in den Mund lebten. 1994 waren es bereits 200 Leute, und ihre Programme lösten weltweit Erstaunen aus; sie hauchten zum Beispiel den Sauriern im Film "Jurassic Park" das Leben ein. Prompt kaufte der Softwareriese Microsoft dieses Juwel von Unternehmen für 130 Millionen Dollar.

Dreidimensionale Graphik ist nicht nur mit Blick aufs Internet eine wichtige Investition auf lange Sicht. Char Davies' Suche nach einem "natürlichen Interface" ist dabei richer wegweisend. Bei ihr gehört auch neue Gerätschaft dazu.

Als Osmose-Besucher hat man einen leichten, mit Sensoren gefütterten Brustharnisch aus schwarzem Leder anzulegen, der jedes Atmen und jede Bewegung an die Software meldet. Mit gefüllten Lungen steigt man aufwärts, beim Ausatmen sinkt man: konzentriertes, gleichmässiges Atmen dagegen führt zu einer ruhigen Balance. Taucher kennen das Empfinden der vollständigen Umhüllung und der Körpererfahrung, die vom seichten Gleiten im Wasser ausgeht. Char Davies übt diesen Sport
sehr gerne aus: unter Wasser kam ihr auch die Idee zu ihrer Arbeit.

Das Konzept lost bei den Teilnehmern intensive Gefühle aus, Sie erzählen von "kontemplativ-meditativer Ruhe", "faszinierender, erhabener Tiefe" oder "milder, trancehafter Geborgenheit". Das Vokabular mag an esoterische Rhetorik erinnern, zeugt jedoch vom VR-Effekt: Die suggerierte Anwesenheit im totalen Bild ruft eine mentale, bei Osmose sogar meditative Versenkung hervor.

Je mehr ein Teilnehmer in einer Virtuellen Realität versunken ist, desto weniger fasst er die berechnete Welt als Konstrukt und um so mehr als persönliche Erfahrung auf. Das galt bislang eher für den simulierten Luftkampf: Osmose zeigt andere Wege zu diesem Prinzip.

Als Kunstwerk allerdings bringt Davies' Projekt eine fragile Übereinkunft in Bedrängnis: die Distanz des Rezipienten, den Abstand zum Werk, der eine kritische Reflexion erst ermöglicht. Mit zunehmender Rechenleistung steigt die Suggestionskraft des Virtuellen, die versteckt in der Ideologie eines "natürlichen Interface" erst ihre volle manipulative Wirkung entfalten
kann. Vor dem Hintergrund dieses Illusionismus ist die Auflösung des Interface auch eine politische Frage.

In den USA und Japan haben sich mittlerweile renommierte Ausstellungshäuser VR-Projekten geöffnet. In Deutschland haben die Medienhochschulen in Köln, Karlsruhe und Frankfurt einiges in Bewegung gebracht, doch im allgemeinen zögert man hierzulande noch.

Auf diese Weise bleiben staatliche Grossforschungszentren, finanzstarke Softwarefirmen und das Sponsoring global agierender Konzerne die Basis der VR-Kunst. Man darf aber gespannt sein, wie sich diese Bildkultur angesichts ständig sinkender Kosten fur die Technik ausbreiten wird. Vielleicht wird sie einmal wachsen wie derzeit die Internet-Kunst. die dank ihrer Textbezogenheit ohne grosse Kosten entstehen kann.

Notes

Osmose wird diesen Sommer wieder in Europa zu sehen sein: vom 19. Juni bis 17. August 1997 im Rahmen einer Ausstellung in der Londoner Barbican Art Gallery.

Im Internet findet man Material unter: http://www.softimage.com/Softimage/Content/Projects/Osmose

This article may include minor changes from the original publication in order to improve legibility and layout consistency within the Immersence Website. † Significant changes from the original text have been indicated in red square brackets.

Last verified: August 1st 2013.