Seitdem die Bildwelten des Computers interaktiv und in Echtzeit verändert werden können, ist eine vollkommen neue Kunstform entstanden. Der Betrachter kann nun im virtuellen Datenraum aktiv sein individuelles Verhalten, seine Emotion, indirekt gar seine Persönlichkeit in die Bilder einfließen lassen. Intensiv leuchten die Farben einer weiten Wüstenlandschaft. Am Horizont tauchen Gruppen von Häusern auf. Sobald ich mich dem ersten Dorf genähert habe, wird deutlich, daß jede der Blockhütten verbrannt ist. Alles ist stumm, öde und verlassen. Dann sind Stimmen zu vernehmen. Es sind Zeugnisse von Verbrechen. Sie gehören den Opfern einer ethnischen Säuberung – vergewaltigten Frauen und ihren Häschern. Jenny Holzers virtuelle Installation World #2 thematisiert die Grauen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Dies sieht der Betrachter nicht im Fernsehen, er ist scheinbar präsent – vor Ort. Die Künstlerin des Wortes sondiert die suggestiven Eigenschaften des bald stärksten Bildmediums, involviert den Betrachter sinnlich und macht ihn zum stillen, unmittelbaren Zeugen...
Computergenerierte Bilder werden seit nunmehr 30 Jahren gestaltet. Neben Disziplinen wie Produktdesign und Medizin entdeckte vor allem die Kunst ihr Potential, Nichtexistentes sichtbar zu machen, und begleitete damit die Genese virtueller Realitäten, auch wenn diese zunächst unbetretbar und unbelebt erschienen. Seit Ende der 80er Jahre vermitteln neue Interfaces die Bilder dreidimensional: HMD, BOOM oder jüngst CAVE. Die Distanz zum Bild wurde aufgebrochen und der illusionäre Eindruck geschaffen, in den Bildraum einzutauchen, sich dort in Echtzeit zu bewegen und Veränderungen vornehmen zu können. Innerhalb der Computerwissenschaft hat sich insbesondere die Präsenzforschung das Ziel gesetzt, die Technik soweit zu entwickeln, daß letztlich alle Sinne mit illusionärer Information versorgt werden, die umgebene Umwelt nicht mehr wahrgenommen und die Immersion in die Illusionswelt vollkomen wird.[1]
Virtuelle Meditation
Seitdem die uralte Allianz von Kunst und Technik eine Renaissance erlebt, sind Künstler an den Forschungen zur Virtuellen Realität (VR) und Künstlichen Intelligenz (KI) intensiv beteiligt: so die 42jährige Kanadierin Char Davies, die in Montreal unter dem Dach des Programmanbieters SoftImage ein neues Kapitel der VR-Kunst öffnete: Wie ein Taucher gleitet der Betrachter einsam durch ozeanische Wassertiefen, flirrende Schwaden errechneter Nebelbänke, Insektenscharen und das dunkle Dickicht eines kristallin schimmernden Waldes. Dank der Stereomonitore unmittelbar vor den Augen gelangt man gar unter die Erde und schließlich in den Mikrokosmos eines opalschimmernden Blattes. Alles, bis ins Innere hinein, ist transparent und permeabel. Das ist die Welt von Osmose, der zur Zeit avanciertesten millionenteuren Simulation von einem Dutzend verzweigter Natur- und Texträume – der visuelle State of the Art des neuen Genres.[2]
Gegenüber herkömmlichen, recht grobschlächtigen Bildern kantig zitternder Polygon-Ästhetik erblickt man in Osmose phosphoreszierende Lichtpunkte, die aus dem Dunkel aufglimmen. Sanft und fließend verlaufen die Übergänge zwischen den Welten. Dennoch zielt die Künstlerin nicht darauf, Natur zu ersetzen. Ihre Darstellungen erscheinen weder realistisch noch abstrakt. Osmose ist eine mineralische und vegetabile, eine fluide Sphäre, ein nichtcartesianischer Raum. Davies eröffnet räumliche Erfahrungen neuer Art: Der Betrachter kann jedwede Perspektive einnehmen, ob radikale Untersicht, welche die Objekte in kolossaler Größe erscheinen läßt, oder Aufsicht, die Überschau und Distanz eröffnet. Zwei Textwelten ergänzen dieses Natursimulakrum: Einerseits 20000 Zeilen Programmcode, die das Werk erzeugen und die in der künstlichen Welt zu kolossalen Säulen geordnet zu besichtigen sind. Auf der anderen Seite ein Raum mit Texten von Bachelard, Heidegger und Campbell zu den Begriffen Natur, Technik, Körper. Die Illusion entsteigt den mächtigen Speichern dreier Silicon-Grafics-Onyx-Workstations, dem Rolls-Royce der Hardware, Kosten: weit über 1 Mio US- Dollar.
Die Bewegungen des Nutzers und die Richtung seines Blicks legen die Reise durch den künstlichen Raum fest: aus diesen Vorgaben erzeugt die Software unmittelbar die Ansichten der künstlichen Welt. Im gleichen Sekundenbruchteil errechnet sie auch den aktuellen Raumklang. Der Komponist Rick Bidlack arrangierte das sinfonische Gefüge aus zwei gesampelten menschlichen Stimmen. Es mag überraschen, daß im Bereich der VR-Kunst, wo sonst Teams von io- Programmierern keine Seltenheit sind, hier nur drei Personen sechs Monate lang werkten.
Char Davies begann ihre Laufbahn als Malerin und Filmemacherin. 1987 verschrieb sie sich der Computergrafik und trat bei SoftImage ein – damals eine Garagenfirma mit drei Mitarbeitern. 1994 schon auf 200 Mitarbeiter angewachsen, wechselte die Unternehmung, deren Programme z. B. den Sauriern des Jurassic Park so eindrucksvoll Leben eingehaucht hatten, für 130 Mio US-Dollar den Besitzer. Der hieß fortan Bill Gates und sieht bekanntlich in der strategischen Verbindung von stark beschleunigtem Internet und VR die Zukunft.
Das natürliche Interface
Brisant und wegweisend vor allem ist Davies’ Anliegen, ein natürliches Interface zu konstruieren: Der „Eintauchende“, als den die Künstlerin den Betrachter gerne bezeichnet, kontrolliert die Navigation durch den Datenraum. Als Osmose-Besucher hat man einen mit Sensoren gefütterten Brustharnisch aus schwarzem Leder anzulegen, der jeden Atmenzug und jede Körperbewegung an den Rechner meldet. Mit gefüllten Lungen steigt man im Bild aufwärts, auf Ausatmen folgt Sinken; konzentrierte, gleichmäßige Atmung hingegen führt zu einer ruhigen Balance. Diese körperintime Synthese aus Technik und Organik eröffnet jedem eine individuelle Reise. Bei Osmose führt dies zum Eindruck nahezu leiblicher Anwesenheit, mentaler, gar meditativer Versenkung. Das Konzept löst bei den Teilnehmern intensive Gefühle aus. Sie erzählen von „kontemplativer Ruhe“, „faszinierender, erhabener Tiefe“ und „milder, tran- cehafter Geborgenheit“. Auch wenn dieses Vokabular an die Kitschgrenze der Esoterik heranreicht, bezeugt es den Zentraleffekt der Virtuellen Realität: die suggestive Anwesenheit in einem totalen Bild. Osmose läßt zum ersten Mal die psychologische Potenz der neuen Illusionskunst erahnen.
Tests haben gezeigt: Je intensiver ein Teilnehmer in einer virtuellen Realität interaktiv und emotional involviert ist, desto weniger faßt er die berechnete Welt als Konstrukt, denn als persönliche Erfahrung auf. Das galt bislang eher für den simulierten Luftkampf; Osmose zeigt andere Wege zu diesem Prinzip. Je größer die Übereinstimmung des Wahrgenommenen mit den erwarteten oder den wahrscheinlichen Phänomenen, desto eher wird das Gesehene für real gehalten. Diesem Credo folgt die VR-Forschung bis in scheinbar banale Details, wie dem Bestreben, die eigene Nase sichtbar zu machen. Die Rückgewinnung des Körpergefühls über eine glaubhafte virtuelle Verkörperlichung steigert die Immersion. Gering immer- sive, abstraktere VR-Installationen, etwa solche von Ulrike Gabriel, der Kölner Gruppe Knowbotic Research oder Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss reflektieren das Suggestions-potential der VR.
Lebendige Bilder
Neben Davies ragt vor allem die 32 jährige Österreicherin Christa Sommerer aus der polyglotten Szene. Mit ihrem Partner Laurent Mignonneau hat sie in den letzten Jahren einen geradezu kometenhaften Aufstieg erlebt. Gemeinsam arbeiten sie am ATR-Lab in Kyoto und am National Center for Supercomputing Applications in Illinois am nächsten Entwicklungsschritt: der Belebung des Datenraumes mit simulierten Pflanzen und virtuellen Wesen – subjekthafte, interaktive Softwareagenten. Vom konservativen Teil des Kunstpublikums nahezu unbemerkt, beschickten sie allein in den letzten zwei Jahren über 30 Ausstellungen zwischen Norwegen, Korea und Kalifornien. In ihrer interaktiven Echtzeit-Installation A-Volve eröffnen sie Besuchern zum ersten Mal die Möglichkeit, virtuelle Wesen zu erzeugen und mit diesen zu interagieren. Die Kreaturen werden am Touchscreen skizziert, mit einem hochauflösenden Barcodata 801 in ein wassergefülltes Bassin projiziert und dort den Regeln von Evolutionsprogrammen unterworfen: Um im virtuellen Raum Lebensenergie zu gewinnen, fressen sie sich gegenseitig, zeugen Nachkommen und vererben gewissermaßen ihre Gene – inklusive Mutationen. Genetische Algorithmen machen die Erscheinungen unvorhersagbar, unwiederholbar und vergänglich.
Bewegung und Verhalten der dreidimensionalen Softwareagenten werden durch ihr Design festgelegt. Bestimmte Formen schwimmen schneller, können sich gegen andere durchsetzen und ihre Erbmasse weitergeben. Die Installation ist darauf angelegt, immer besser angepaßte Kreaturen hervorzubringen.[3] Es gilt das Prinzip survival of the fittest. Die Schwachen werden gefressen oder verhungern. Der Betrachter kann „Gott spielen“, neue Wesen kreieren, das simulierte Ökosystem unter seinen Einfluß bringen: Durch eine Art Streicheln kann man die Wesen anlocken, sie fest- halten, ihre Fortpflanzung manipulieren, sie „töten“. Das funktioniert über ein Kameraauge, das die Gesten der Nutzer an den Rechner meldet, der mit entsprechenden Bildern antwortet.
Im April diesen Jahres präsentierten Sommerer und Mignonneau im neuen ICC Museum in Tokio mit Life Spacies ein System, das nun auch per Internet weltweit angesteuert werden kann. Unter http://www.ntticc.or.jp/~lifespacies (ed. link defunct, now http://www.ntticc.or.jp/en/archive/works/life-spacies/ last visited June 2017) kann jeder selbst zum Erzeuger neuer Wesen werden und mit diesen interagieren. Die „widerstandsfähigsten“ Genotypen breiten sich aus und simulieren Arten! [4]
Der Beginn einer faszinierenden, doch bedenklichen Entwicklung: Die Forschung zielt auf einen belebten virtuellen Bildraum, der um so realer empfunden wird, je natürlicher das verbindende Interface gestaltet ist. Je stärker die aktiv und unmittelbar erfahrene Illusion, desto intensiver das Eintauchen in das digitale Werk. Die Computerwissenschaftlerin Carrie Heeter bezeichnet diesen Effekt als social presence.[5] Vom Künstler verlangen die neuen Möglichkeiten dramaturgisches Geschick und choreographische Kompetenz. Mit einer systeminternen Zielvorgabe könnte der Interakteur manipulativ gelenkt werden, und zwar ohne es zu bemerken.[6] In diesem Wechselspiel von Interaktionsfreiheit und dramatischem Handlungsfluß, dem sich der Interakteur fügen muß, läge seine emotionale Involvierung begründet.
Von Werkkonzepten, die daran orientiert sind, einer Idee existentielle Form für einen zeitlichen Abschnitt im Raum zu sichern, divergiert die ontologische Erscheinung des VR-Werkes kategorisch: Die in Sekundenbruchteilen vergehenden Bildräume erreichen erst durch die serielle Echtzeitberechnung den Effekt des Bestehenden. Die Konstitution des Werkes über Lichtphotonen bedeutet seine fortwährende Immaterialisation. Das ist Voraussetzung für die größtmögliche Variabilität des Bildes und begründet die Interaktion. Entsprechend wird das Werk in jüngster Zeit stärker in seiner Prozessualität aufgefaßt, die Unabgeschlossenheit betont und die Kunst in ihren kommunikativen gesellschaftlichen Beziehungen verortet.
Spiel als Kunst
Für die Kunst entsteht somit eine ganz neue Situation: Der Künstler gibt einen Teil seiner Kontrolle über das Werk ab und bietet dem Betrachter ein Bündel von Eingriffsmöglichkeiten. Entsprechend gewinnt das Publikum Gestaltungsmacht, wird zum essentiellen Miterzeuger des Werkes: zum Künstler für fünf Minuten. Mit der Offenheit des Endergebnisses wächst den Nutzern ein konstruktives Element zu. Der ehemals „passive“ Betrachter kann zum aktiven Interakteur werden, der im Rahmen gebotener Freiheitsgrade seinen Assoziationen spielerisch in Auswahl und Neukombination freien Lauf läßt. Je stärker die im Spielsystem integrierten Freiheitsgrade qualitativ und quantitativ zunehmen, desto nachhaltiger verschiebt sich das Verhältnis kreativer Anteile vom Künstler in Richtung Spieler. Damit erfüllte die Virtuelle Kunst uralte Kunstutopien, die bis in die Antike zurückreichen und in Schillers Gedanken zum Spiel und Huizingas Essay Homo Ludens ihre prominentesten Fürsprecher besitzen. In einem fortgeschrittenen Stadium könnte diese Kunst die Feinheiten menschlicher Motive ermöglichen und eine ernstzunehmende Gemeinschaftskultur hervorbringen. Eine Kultur des Spiels, weg vom auratisch verehrten Werk des einzelnen, hin zu einem Momentwerk, welches sich aus den autopoietischen Beiträgen seiner Teilnehmer begründet. Peter Weibel zog daraus den vorschnellen Schluß einer „Emanzipation“ des Betrachters durch Interaktion.[7]
Der Spielgedanke führt jedoch zwingend zur Formulierung und Herausbildung einer Spielerkompetenz. Hier liegt der Ansatzpunkt für eine öffentlichkeitswirksame Exponierung des Spiels: Erst der virtuose Spieler, der sich innerhalb der technischen Grenzen und der Offenheit der Freiheitsgrade bewegt, vermag durch unnachahmliche Interpretation bzw. Kreation das Spiel für Außenstehende attraktiv zu machen. Er macht dieses Spiel zu einem unverwechselbaren Original. Damit könnte ein Mechanismus in Gang gesetzt werden, der etwa der populären Musik den aura-besetzten Star einbrachte.
Evolution der Netze?
Ulrike Gabriel, Perceptual Arena, 1993
[still image from video caption Perceptua Arena III ]†
Starke Impulse erfährt die Theoriediskussion heute insbesondere aus den Naturwissenschaften: Im Keyword der letzten ars electronica überführte der Biologe Richard Dawkins seine von Fachkollegen kritisierte kulturdarwinistische Theorie der Meme ins Feld der Computersimulation. Analog zu Genen trüge Meme kulturelle Erbmasse über die Generationen. Die evolutionären Prozesse in den Computernetzen, die u. a. durch die Anwendung genetischer Algorithmen in Gang kämen, würden bald schon autonome künstliche Systeme erzeugen, die Sprache und Gesten erkennen, sowie erinnerungs- und lernfähig seien, um schließlich auch kulturelle Einheiten zu transportieren: subjekthafte Software-Agenten [8], die ihre Komplexität durch Evolutionsmechanismen steigern, um schließlich mit Wesen künstlicher Intelligenz aufzuwarten. So zumindest die Hoffnung der KI-Forscher. [9] Im Raum steht einmal mehr die Utopie von Intelligenzen, die das menschliche Potential überträfen. Was von diesen Szenarien auch zu halten ist: klar scheint, daß die virtuelle Bildkultur ihren intensivsten Schub in Richtung Illusion nicht durch Ingenieure erfahren wird, die minutiös jedes Detail aufwendig berechnen, sondern durch kombinatorische Prozesse, die komplexe, zufällige Formen erbringen.
Illusion schlechthin
Für die Kunst gerät in den belebten virtuellen Environments ein sehr fragiler Kernbereich in Bedrängnis: die Distanzgeste des Rezipienten, die eine kritische Reflexion erst ermöglicht. Es war Ernst Cassirer, der die subjektkonstituierende Kraft der Distanz hervorhob [10], die einzig den „ästhetischen Bildraum“ zeuge. [11] Zwei Jahre später plazierte Aby Warburg das Distanzparadigma, jenen „Grundakt menschlicher Zivilisation“gar in die Einleitung seines Mnemosyne-Atlas. Je körperintimer die Interfaces, desto ausgeprägter nicht nur die Gefahr, daß der unsichtbare Teil des technologischen Eisbergs seinem Anwender unbewußt bleibt, sondern desto intensiver vor allem die illusionäre Entgrenzung mit dem Datenraum. Mit zunehmender Rechnerkraft steigt das Suggestionspotential des Virtuellen, das durch die Ideologie eines natürlichen Interface erst seine psychologisch-manipulative Wirkung entfalten kann. Vor dem Hintergrund des Illusionismus der Virtuellen Realität, welche letztlich auf alle Sinne zielt, ist die Auflösung des Interface auch eine politische Frage. Totale Bilder werden möglich, schnell und überraschend, zu denen die Eigenrelation verloren gehen könnte, eine Hingabe an rauschhafte Momente. Vorstellbar ist ein technisches Narkotikum mit psychischen und physischen Wirkungen. Das technische High würde durch Ausschüttung von Endorphinen erzeugt. Es geht um die Illusion, im Bild zu sein. Ein Bild, das, evolutionär außer Kontrolle, genetischen Algorithmen folgt und vollkommene Immersion bietet – Religio.
Monika Fleischmann/Wolfgang Strauss, The Home of the Brain, 1992.
Um sich für die Herausforderungen der sich abzeichnenden Bildrevolution für Wahrnehmung, Kognition und Psyche zu wappnen, ist es von zentraler Bedeutung, Bildkompetenz zu erlangen: eine Schule des Bildes, die Rüstzeug für den Umgang mit den lebendigen Bildern vermittelt. Für Psychologie, Neurologie, Informatik und insbesondere die Kunstgeschichte, die 200 Jahre Bildforschung einbringt, gilt es hier eng zusammenzuwirken. [12]
Für das System Kunst bedeuten die Potentiale der Virtuellen Realität eine Änderung in seinem Wesen. Dies gilt auch, wenn sich die VR-Kunst vorerst in den Beschneidungen der sie tragenden Technik einrichten muß und die immensen Kosten der Geräte eine Verbreitung dieser Kunstform noch verhindern.
Vorläufig bleiben staatlich geförderte Großforschungszentren, finanzpotente Softwarefirmen und das Sponsoring der sogenannten Global Player – letztere besitzen ein vitales PR-Interesse – Basis der virtuellen Computerkunst. Man darf gespannt sein, wie sich diese Bildkultur bei sinkenden Hard- und Softwarepreisen ausbreitet; das exponentielle Wachstum der noch weitgehend textbezogenen WWW-Kunst ist Modell. Künftig verspricht das Internet, bei entsprechender Steigerung der Datenübertragung, die Kunsträume ortlos zu machen, weltweit beliebig vielen Teilnehmern zugänglich.
Für den kreativen Prozeß könnte die Virtuelle Realität der nachhaltigste Durchbruch seit der Erfindung des Films werden. Wenn die Künstler intensiven und kritischen Gebrauch von den technischen Potentialen der VR machen, werden wir Zeugen einer bewegenden Kunst, die ganz neue Wahrnehmungspotentiale eröffnet, einer Kunst zwischen befreiendem Spiel und psychischer Manipulation.
Anmerkungen
1. Stellvertretend: Lindsay MacDonald u.a. (Hg.): Interacting with Virtual Environments. New York 1994.
2. Eine erste Annäherung versucht Mary A. Moser (Hg.): Immersed in Technology: Art and Virtual Environments. MIT Cambridge/Mass. 1996.
3. Vgl. Christa Sommerer und Laurent Mignonneau: Art as a Living System. In: Leonardo, Bd 30, Nr. 5, im Druck.
4. Das versucht auch der diesjährige Preisträger der ars electronica, das Team um Rycharde Hawkes mit der Arbeit TechnoSpere (sic).
5. Carrie Heeter: Being There: The Subjective Experience of Presence. In: Presence, Bd 1, Nr. 2, 1992, MIT/Mass., S. 264 ff.
6. Vgl. Margret Kelso u.a.: Dramatic Presence. In: Presence, Bd 2, Nr. 1, 1993, MIT/Mass., S. 14.
7.Vgl. Peter Weibel.: Transformationen der Techno-Ästhetik, in: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main 1991. S. 245f.
8. Vgl. Pattie Maes u.a.: The ALIVE System: Full-body Interaction with Autonomous Agents. In: Proceedings of the Computer Animation ‘95 Conference, Geneva IEEE-Press, 1995.
9. Luc Steels (u.a. Hg.): The Artificial Life Route to Artificial Intelligence: Building Embodied, Situated Agents. Hillsdale, New Jersey 1995.
10. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der Symbolischen Form [1923]. Darmstadt 1953. Teil I, S. 138, und Teil III, S. 358f.
11. Vgl. ders.: Individuum und Kosmos [1927]. Darmstadt 1963. S. 179.
12. Diese Forderung von Italo Calvino ist mehrfach von Horst Bredekamp in Vorträgen aufgegriffen und zugespitzt worden. Praktische Bestrebungen, etwa von Ginette Daigneault vom Département des Sciences de l'education in Quebec, weisen in genau diese Richtung.
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