3.4. Osmose von Char Davies

In einen Baum eintreten und ihn durch seine Blätter erst wieder verlassen, nachdem man ihren Prozess der Photosynthese und der Chlorophyllbildung miterlebt hat, das ist eine der zahlreichen Erkundungsmöglichkeiten, die Char Davies dem Betrachter von Osmose bietet, einem immersiven, interaktiven und multisensoriellen Ambiente virtueller Natur, das 1995 entwickelt und hergestellt wurde. [57]

Breathing and Balance interface for Osmose and Ephémère
Breathing and Balance interface forOsmose(1995) and Ephémère (1998)

Mittels dreidimensionaler computergraphischer Bilder und lokalisierter stereophoner Töne konstruiert Davies zwölf Welten, in die man eintauchen kann mithilfe eines Helms mit Kopfhörer und einer Brille mit Bildschirmen, die eine stereoskopische Sicht ermöglichen (Head Mounted Display) und einer Art Tragevorrichtung mit Schulterriemen und einem Brustband. Es gibt keine Handschuhe, keinen Joystick, keinen Trackball oder andere per Hand zu betätigende Interfaces, denn die Interaktion basiert ausschließlich auf dem Atem und dem Gleichgewicht der Person. Beim Einatmen steigt man nach oben, beim Ausatmen nach unten, wenn man sich nach vorne beugt, geht man vorwärts, wenn man sich nach hinten beugt, geht man zurück. Eine wirklich originelle Methode in das Werk einzutauchen, inspiriert von Davies Fähigkeiten als Tauchspezialistin, vor allem aber von dem Wunsch der Künstlerin, sich von den konventionellen, am meisten verbreiteten Zugängen und repräsentativen Lösungen, die in diesem Zeitraum gewöhnlich bei virtuellen Arbeiten angewandt wurden, zu unterscheiden und sie auf den Kopf zu stellen, nicht nur im Hinblick auf die Nutzung, sondern auch im Hinblick auf die räumliche und klangliche Wiedergabe der Inhalte.

Eines der Hauptziele von Davies besteht darin, die Möglichkeiten der dreidimensionalen Computergraphik zu erweitern und eine alternative ästhetische Ausdrucksmöglichkeit zu schaffen, die auf einer anderen interaktiven Sensibilität in Echtzeit beruht. Osmose will

"einen 'physisch innovativen' Raum schaffen, in dem, um Bachelard zu zitieren, die Partner nicht den Ort, sondern ihre eigene Natur verandern (...). Meine Hoffnung war, dass sie die virtuelle Welt mit dem Wunsch verlassen würden, die reale Welt auf neue Weise zu erfahren, so als ware es das erste Mal, und damit ein grundlegendes Gefühl fur ihr eigenes 'In-der-Welt-Sein' zu wecken." [58]
Shadow Silhouette
Shadow Silhouette

Es geht also nicht darum, die reale Welt in eine virtuelle zu überführen und sie dabei so getreu wie möglich zu kopieren, wie das bei den meisten virtuellen Arbeiten der Fall ist, die auf diese Weise die Fähigkeiten des technischen Mediums unterstreichen und sozusagen feiern. Davies will über diese Mimesis hinausgehen, über den exzessiven Photorealismus, der sich auf eine cartesianische Raumvorstellung stützt und strenge Grenzen zieht zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem handelnden Nutzer und der Welt, in der er aktiv ist. Davies definiert die Dichotomien von Subjekt/Objekt, Ich/Welt, Geist/Körper neu, um die Einheit des Lebendigen wieder herzustellen. Sie hat es auf die Ambiguität räumlicher Beziehungen abgesehen, bietet eine evozierte, nicht eine realistisch abgebildete Natur an, indem sie angedeutete statt explizit dargestellter Elemente einbezieht, die den Geist des Nutzers – des 'immersant', wie ihn Davies nennt – zu den unterschiedlichsten persönlichen Assoziationen veranlasst, aber auch zu einer neuen Sicht der Dinge und seiner eigenen Person.

Bevor sie ihn in diese neue Wirklichkeit hineinführt, zwingt die Künstlerin ihn noch ein letztes Mal, sich auf das einzulassen, was metaphorisch die Bedingungen des Sehens in der abendländischen Denktradition bestimmt: ein Raster von cartesianischen Koordinaten, Grundlage des dreidimensionalen Raumes, auf dem normalerweise die computergraphisch erzeugte virtuelle Welt beruht und der sich in alle Richtungen hin bis ins Unendliche ausdehnt, bildet die Eingangsumgebung von Osmose. Eine Art notwenige Durchgangssituation, die man sich bewusst machen muss, um sich von diesem rationalen Ansatz der Weltdarstellung zu befreien, auf die sie verweist und ihn hinter sich zu lassen. Beim ersten Atemzug löst sich in der Tat dieses Raster auf in einen Nebel, der sich rasch mit blattähnlichen organischen Formen füllt, die das Betreten des Waldes ankündigen. Sobald das Raster verschwindet, kann der Nutzer sich der Erprobung einer andersartigen Beziehung zu seiner Umgebung hingeben, die um ihn herum ist und die sich als natürlich herausstellt. Vom Wald geht es auf die Lichtung, von den Wurzeln eines Baumes ins Innere eines Blattes und dann taucht man nach unten ein in einen Teich, bis in den tiefsten Abgrund des Ozeans und die unterirdische Welt der Gesteine und Felsen, um dann wieder bis zu den luftigsten Wolken emporzusteigen. Die Natur wird in alien ihren Dimensionen beschworen, in allen ihren physikalischen Zuständen und dem Nutzer steht es frei, sie zu durchstreifen, sie zu erkunden und mit ihr zu verschmelzen.

Char Davies, Tree Pond, from Osmose, 1995.
Digital frame captured in real-time
through head-mounted display during
live performance.

Oberhalb und unterhalb dieser natürlichen Umgebungen hat Davies zwei Welt-Räume besonderer Art angesetzt, den der Texte und den der Ziffern, die jeweils als superstratum bzw. als substratum bezeichnet werden. Im ersten laufen Zitate und Textpassagen von Philosophen, Dichtern oder Künstlern wie Bachelard, Heidegger, Thoreau, Rilke ab, die sich auf die Technik, auf den Körper und auf die Natur beziehen. Im zweiten dominieren Computerbefehle, der binäre Code, Software, die speziell fur das Werk entwickelt wurde. Buchstaben und Zahlen bilden für Davies eine begriffliche Parenthese für das gesamte Werk, sie repräsentieren die theoretische Konzeption und den technischen Apparat, die der Gestaltung von Osmose zugrunde liegen. Der Kritiker Mark J. Jones kommentiert die großen phosphoreszierenden grünen Formen, von denen er sich beim Eintauchen umgeben sieht, durch den Hinweis auf DNA, Trägerstrukturen, auf denen alles andere basiert. [59]

Der fünfzehn Minuten dauernde Durchgang endet mit Life World, einer symbolischen Darstellung der Gesamtheit aller Welten. Während der Besucher bei seinem Gang durch die Ausstellung die Möglichkeit hat, in einige bereits gesehene Räume zurückzukehren, wird er jetzt in langsamem Voranschreiten unerbittlich zum Ausgang geleitet, was den Eindruck des Sich-Entfernens verstärkt und deutlich macht, dass man nicht zurückgehen kann, und sei es auch nur, um die verbleibende Zeit besser zu nutzen. Sehr häufig bezeugen die Außerungen von Nutzern, die das Werk kennengelernt haben, ein Gefühl des Verlustes: viele haben den Schlussmoment des Besuches mit dem Ubergang vom Leben zum Tod verglichen und dabei auch die Überwindung der damit verbundenen Angst als wohltuend verbucht.

Char Davies, Subterranean Earth,
from Osmose, 1995.
Digital image captured in real-time
through head-mounted display during live immersive performance.

Osmose ist "eine sanfte, organische (....), pflanzliche und meditative Welt" [60], wo jede gestalterische, farbliche und klangliche Lösung daraufhin angelegt ist, im Betrachter den Eindruck von Kontinuität, Eingebettetsein und Begeisterung zu wecken.

Das Team von Davies, das mit Softimage arbeitet, hat sich vor allem um eine dreidimensionale Darstellung des Ambientes bemüht und dafür eine Losung entwickelt, die auf einem Gewebe von halb durchsichtigen, leuchtenden und fließenden Partikeln beruht, die sich entschieden von den traditionellen vieleckigen festen Modulen unterscheiden. Die für Osmose erarbeiteten Strukturen erlauben eine Darstellung der Welt-Räume durch fließende, unbestimmte Formen, die an Naturbezüge erinnern, ohne sie im Detail zu beschreiben, Welt-Räume, "die poetisch dargestellt sind, bzw. die gemaß ihrer impliziten, inneren Beschaffenheit erfasst werden und nicht nach ihrem äußeren Erscheinungsbild."[61] Eine Darstellung zwischen Figürlichkeit und Abstraktion, wo die Umrisse der Elemente sich auflösen und mit der Aufeinanderfolge der Bilder verschmelzen. Die Übergänge zwischen den Welt-Räumen verlaufen sanft: bevor sie sich ineinander auflösen, entstehen transparente Überschneidungen, die eine Koexistenz und ein gleichzeitiges Erleben der Umgebungen ermöglichen.

Grundlegend fur die Erzeugung aller dieser Effekte ist die farbliche Komponente, die anstelle greller Farben und starker Kontraste abgestufte Farbnuancen setzt, meist erdfarbene Töne zwischen Grün und Braun, und Geräusche, die aufjedes einzelne Bild, jede mehrdimensionale interaktive Raumzone sorgfältig abgestimmt sind. Die Position, die Richtung und die Geschwindigkeit des Nutzers bestimmen die Entwicklung. Vor einem angenehmen Klanghintergrund erscheinen Motive, die dank spontaner geistiger Assoziationen an natürliche Geräusche des Wassers erinnern oder an den Gesang der Vögel, das Quaken der Frösche, das Summen der Insekten. In Wirklichkeit sind alle Geräusche das Produkt einer komplexen und vielfältigen digitalen Sammlung von phonetischen Äußerungen von nur zwei menschlichen Stimmen, einer männlichen und einer weiblichen.

Besonderes Gewicht kommt innerhalb der undefinierbaren und wandelbaren Welt von Osmose dem einzigen Element zu, das sich leicht als eigenständige Gestalt identifizieren lässt: einem Baum, einer großen alten Eiche. Sie erhebt sich isoliert mitten auf einer Lichtung, einem offenen, einladenden Platz, einem Einschnitt mitten im Wald: "Als Symbol des Lebens, der Fruchtbarkeit und der Wiedergeburt – stellt Oliver Grau fest – findet sich das Bild des Baumes in allen Kulturen und in allen Epochen. Jetzt wächst er hier: der Baum der virtuellen Welten. Wenn man vom Wipfel des virtuellen Baumes nach unten blickt, des Baumes, in dem der biologische Prozess der Osmose zum Mysterium wird, zum auratischen Ereignis, das mit den technologischen Bildern verschmilzt, dann gleicht das dichte Geflecht der Wurzeln einer entfernten Galaxis. Wenn der Betrachter näher kommt, erinnert es an einen Mikrokosmos."[62] Es handelt sich um einen kristallinen Baum, dessen Stamm, dessen Zweige und Blätter eine seltsame Leuchtkraft entfalten und deren Glanz sich im nahe gelegenen See spiegelt. Wenn der Nutzer sich nähert, entdeckt er, dass der Baum nicht aus fester Materie besteht, dass vielmehr die fließende Transparenz der Rinde ihn einlädt, sie zu überwinden. Auf diese Weise beginnt seine gelenkte Reise in den Baum. Durch die lymphatischen Kanäle gelangt er in den Mikrokosmos eines Blattes. Hier entdeckt er dessen innere Struktur, die aus verzweigten Adern besteht, hier nimmt er teil am fesselnden und dynamischen Dahinfließen einer Vielzahl feuchter grüner Partikelchen, die den Prozess der Photosynthese bewerkstelligen sollen. [63] Eine suggestive Erfahrung, die die physiologischen Prozesse der Pflanze nicht aus wissenschaftlicher oder pädagogischer Sicht interpretiert; er wird vielmehr vor allem aus dem Blickwinkel der bestmöglichen Identifikation für das kollektive Imaginäre erfasst, damit der Nutzer sofort erkennt, in welchem Kontext er sich befindet und ihn ganz bewusst von innen heraus erlebt.

Char Davies, Forest grid, from Osmose, 1995.
Digital image captured in real-time
through head-mounted display during
live performance.

Die dramatische Ausgestaltung der erlebten Augenblicke, die einige Lösungen der Phantasie verdankt, trägt zur Steigerung der emotionalen Beteiligung der Person bei, die sich bereits in einer im wirklichen Leben unvorstellbaren Situation befindet: sie ist Teil der biologischen Prozesse des Baumes, spürt um sich herum die intensive Lebensaktivität der pflanzlichen Natur, die gewöhnlich hinter festen, kompakten Formen verborgen ist, wie zum Beispiel dem Stamm, den Ästen, dem Blatt selbst, die sich scheinbar träge verhalten. Das Eintauchen des Nutzers in diese von der seinen so weit entfernte Welt wird noch dadurch verstärkt, dass Davies ihm die Möglichkeit nimmt, sich weg zu bewegen oder durch den Gebrauch von Technik auf seine Umgebung und die Objekte um ihn herum Einfluss zu nehmen, wie das sonst bei menschlichen Wesen der Fall ist. Da er nicht laufen und mit seinen Händen nichts tun kann, sondern sich für die Ausführung von jeder Art von Bewegung ausschließlich auf seinen Atem und sein Gleichgewicht stützen muss, ist der Nutzer gezwungen, eine Art 'vegetativen' Zustand zu durchleben. Diese Situation erlaubt es ihm einerseits, in Einklang mit der Natur von Osmose zu treten, andererseits aber sich seines Körpers als einer unteilbaren Einheit wieder zu bemächtigen, die in ihrer Gesamtheit an Bewegung, Ausdruck und Aufnahme von Beziehung beteiligt ist: "Dieses Zusammenspiel von Atem und Gleichgewicht wurde gewählt, um die Bedeutung des lebendigen physischen Körpers im interaktiven virtuellen Raum zu unterstreichen, der als ideales Terrain für eine subjektive Erfahrung angesehen werden kann. Ein Zusammenspiel, das außerdem eher als Kommunikationsinstrument denn als Kontrollmechanismus betrachtet werden sollte. Wie in der Meditation eröffnet das Verfolgen des eigenen Atems und das Im-Gleichgewicht-Halten des eigenen Körpers einen tiefen Weg zur Kontaktaufnahme mit der Welt." [64] Davies schlägt diese radikale Alternative zu den üblichen Methoden der Navigation durch virtuelle Welten vor, um die Priorität des In-der-Welt-Seins gegenüber dem Agieren in ihr oder an ihr wieder zur Geltung zu bringen. Mittels Interfaces, die auf den Körper zentriert sind, will die Künstlerin die handelnde Person ermutigen, sich auf sich selbst zu konzentrieren, da die Erkundung und die Kenntnis des virtuellen Raums nur zu bewerkstelligen sind, wenn die Besucher über eine hinreichende Beherrschung ihrer eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten verfügen: die Regulierung des Atems, die Ausbalancierung der Bewegungen des Oberkörpers durch Einbeziehung der Schwerkraft, das Herausfinden des richtigen Gleichgewichts zwischen Geschwindigkeit und Kraft, aber auch das Annehmen einer ruhigen, meditativen Haltung, denn abrupte, rasche oder aggressive Bewegungen erzeugen keine positive Wirkung sondern sind im Gegenteil ineffektiv.

Char Davies, Code World, from Osmose, 1995.
Digital image captured in real-time
through head-mounted display during
live immersive journey/performance.

Der Nutzer ist gezwungen seinen Körper 'leben zu lehren' und sich ausschließlich mit seiner Hilfe mit der Außenwelt auf eine Art und Weise in Verbindung zu setzen, die er nicht mehr kennt. Im alltäglichen Leben neigt der Mensch weniger zur Meditation als zum Handeln und er greift dabei auf körperfremde Geräte zurück, die die Fähigkeiten des Körpers erweitern, die nach Davies zugleich aber auch dazu tendieren, seine zentrale Stellung zu untergraben indem sie sich an die Stelle einer direkten Beziehung setzen und den Wunsch nach Kontrolle und Beherrschung der Dinge verstärken. Dieses Ergebnis verstärkt sich noch in virtuellen Welten, in denen Joystick, Handschuhe und andere Interfaces manueller Art zum Handeln ermutigen, zu einem sensomotorischen Verhalten, zum Ergreifen – berühren, manipulieren, handeln – kurz dazu, eine Macht über die Elemente auszuüben, denen man begegnet, und dabei einen einzigen Körperteil zu privilegieren:

"Während in anderen konventionellen virtuellen Realitäten der Körper auf nichts weiter als eine erkundende Hand reduziert ist oder ein umherschweifendes Auge, ist das Eintauchen in Osmose abhängig vom grundlegendsten physischen Akt des Lebens, dem Atmen, nicht nur um zu navigieren, sondern, was viel wichtiger ist, um innerhalb der virtuellen Welt eine besondere 'Daseinsform' zu erreichen." [65]

Die Wiederaneignung des Körpers und des Bewusstseins des eigenen Selbst gehen nach Davies vom Atmen aus, dem fundamentalsten und ursprünglichsten Akt des Lebens, der gewöhnlich zu einer automatischen physiologischen Geste reduziert wird, und der, während er in der Wirklichkeit das 'Innere' der Person mit dem 'Außen' verbindet, in Osmose zum auslösenden Faktor für den Wechsel der Bilder, der Räume, der Klänge und des Reiseweges wird.

Nach Derrick de Kerckhove, der Osmose 1998 als Videoprojektion in einem Vortrag zum Thema "Landscape in Motion – La Generazione delle Immagini" in Mailand kommentiert hat, gelingt es dem Werk von Davies, die besondere Bedeutung von Interaktivität durch die brillante Metapher des Atmens zu fassen, eine Metapher, die "grundlegend ist, wenn man begreifen will, welche sinnliche Veränderung in unserem Leben und unserer Zeit stattfindet." Um diese Behauptung zu erläutern, greift De Kerckhove auf die griechische Antike zurück und schlägt einen originellen Vergleich zwischen der Bedeutung des Atems in dieser Epoche der Menschheitsgeschichte, die die Wiege der europäischen Kultur darstellt, und der Interaktivität von heute vor. Dabei definiert er für beide Epochen das Atmen als die grundlegende Fähigkeit des Menschen, Erfahrungen zu machen. "Für die Griechen war der Atem der Ansatzpunkt für die Wahrnehmung der Wörter, des Gehörten, des Anderen. Für die antiken Griechen war der Sitz der visuellen Wahrnehmung vor der Erfindung des Alphabets nicht im Gehirn, sondern in den 'phrenes', den Lungen, angesiedelt und man 'atmete' die Erfahrungen ein. Als sie das Alphabet erfanden, wurde die Erfahrung vertikalisiert, sie verlagerte sich vom 'pneuma', dem 'Hauch', auf die Psyche (die Seele), die als trennendes Element zwischen dem Körper und der Welt steht. Dieser Standpunkt schafft ein trennendes Moment zwischen dem Subjekt der Perspektive und dem Objekt in Gestalt der Perspektive. Der vorliterarische Atem der Griechen vollzieht im Akt der Erfahrung einen Austausch und die elektronische Interaktivität kehrt zu dieser Art von Dynamik zurück." [66]

Osmose ist eine Reise in Einsamkeit, um Ablenkung zu vermeiden, um die individuelle Erfahrung im virtuellen Raum zu verstärken, um sich besser zu 'entdecken' und sich frei zu fühlen, in einem anderen Zustand aufzugehen, einem vorwiegend natürlichen ohne Vermittlungen. Mark Pesce bemerkt dazu: "Was dir in Osmose begegnet, bist du selbst, was herauskommt, ist dein Gefühl für Schönheit, dein Staunen, dein Gefühl des Einsseins." [67]

Die einzige andere menschliche Gegenwart, die von Davies im Werk vorgesehen ist, äußert sich auf unterschwellige Weise in Gestalt von Stimmen, die den klanglichen Hintergrund bilden und den Nutzer überall auf seinem Weg begleiten. Zu diesen unsichtbaren Begleitern gesellen sich äußere Beobachter, die in einem dunklen, eigens dafür hergerichteten Raum da sein und indirekt an der Interaktion teilnehmen können, indem sie sich spezielle polarisierte Brillen aufsetzen. Ein Bildschirm zeigt ihnen in stereoskopischer Wiedergabe die audiovisuelle Projektion der Welt-Räume von Osmose so wie der Nutzer sie in Echtzeit erlebt. Durch eine matte Glasscheibe hingegen sieht man die Silhouette des Nutzers selbst, der sich bewegt. Das Publikum kann also direkt den Zusammenhang zwischen seinen Gesten und den entsprechenden visuellen und klanglichen Veränderungen der unterschiedlichen virtuellen Umgebungen verfolgen, in denen es sich befindet: einerseits wird so die zentrale Bedeutung des menschlichen Körpers deutlich, andererseits die zentrale Bedeutung der Erscheinungen der Natur.

Die Natur ist in der Tat neben dem Körper das zweite beherrschende Thema in Osmose; eine Natur, die sich auf verschiedenen Ebenen entfaltet, damit der Nutzer einen vollständigen, umfassenden Eindruck erhält, der über den irdischen hinausgeht, der auch schwer zugängliche oder unmögliche Räume umfasst und in dessen Mittelpunkt ein Baum steht, dessen Rolle als Symbol der Vitalität der Natur durch seine zentrale Stellung in der Gesamtarchitektur des Werkes unterstrichen wird.

Die Bedeutung und die Gestaltung der Natur bei Davies beruhen auf besonderen biographischen Erfahrungen. Sie ist aufgewachsen in den endlosen Weiten im Norden Ontarios, wo das Gefühl für die Natur gewaltig ist, besonders wenn man in abgelegenen Wohneinheiten lebt. Sie hat die Tiefen des Meeres erkundet, eine Beschäftigung, die eine individuelle und einsame Beziehung zur Natur befördert. In Osmose übermittelt sie diese tiefe Beziehung zur Welt der Natur und macht mit Mitteln der Virtualität ihre Erfahrung und Kenntnis der Landschaften zugänglich, in denen sie gelebt hat und noch lebt, in die sie eingetaucht ist, um sie mit anderen Personen zu teilen, damit auch diese das Gefühl der Einheit mit der Natur erfahren können.

Allein mithilfe der virtuellen Realität erreicht Davies, dass Natur und Mensch sich durchdringen und untereinander eine Art osmotischer Interaktion herzustellen vermögen — gemäß der physiologischen Definition des Begriffes als Durchgang von Flüssigkeiten durch halb durchlässige Membranen. Der Nutzer hat den Eindruck, dass jeder Körper, auch sein eigener, seine Festigkeit verliert und gleichermaßen durchdrungen werden und die ihn umgebenden Körper durchdringen kann, in einem Akt wechselseitigen Verschmelzens jenseits von Angst und individuellen Grenzen:

"In meiner Arbeit bemühe ich mich, den ,subjektiven lebendigen Körper' aufzuwerten. Statt die Sterblichkeit unseres Körpers und unsere tiefe physische Bindung an die Natur zu leugnen, versuche ich, wenn auch paradoxerweise durch hoch technisierte Kunstformen, die Menschen ihrem Körper und der Erde näher zu bringen, indem ich mich der virtuellen Realität bediene, um ihnen das Gefühl wieder zu geben, dass sie physisch, körperlich ,in der Welt' sind und um in ihnen das wunderbare Empfinden des Daseins zu wecken." [68]

Notes

57. Osmose wurde erstmals 1995 in Montreal anläßlich des "Sixth International Symposium on Electronic Art (ISEA '95)" ausgestellt. In Italien wurde das Werk als Video gezeigt bei "iMage, Festival internazionale di architettura in video", Florenz, Dezember 1998, http://architettura.it/image/festival/1998/it/davies.htm.
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58. C. Davies, J. Harrison, "Osmose: Towards Broadening the Aesthetics of Virtual Reality", In: ACM Computer Graphics: Virtual Reality, vol. 30, n. 4, 1996, www. immersence.com/publications/char/1996-CD-Comp_Graphics.html.
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59. M. J. Jones, "Char Davies: VR through Osmosis", In: Cyberstage, vol. 2, n. 1, Fall, 1995, www.immersence.com/publications/1995/1995-MJJones.html.
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60. P. Levy, Cybercultura, Feltrinelli, Milano, 1999, S. 43 und 44.
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61. C. Davies, "Osmose: Notes on Being in Immersive Virtual Space", In: Digital Creativity, vol. 9, n. 2, 1998, www.immersence.com/publications/char/1998-CD­Digital_Creativity.htm
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62. 0. Grau, "Charlotte Davies: Osmose", In: Virtual Art, From Illusion to Immersion, Cambridge Massachussetts: MIT Press, 2003, www.immersence.com/publications/2003/2003-0Grau.html.
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63. Bedeutsam und einzigartig sind die 'Pflanzenabenteuer', die Mark J. Jones und Pierre Lévy erlebten, als sie die Installation bei ihrer ersten Präsentation in Montréal im Jahre 1995 sahen. Besonders Jones hält die Atmosphäre dieser Erfahrung in einer Art Telechronik fest, die reich an Details und Empfindungen ist: "Ich will den Baum berühren, aber da er keine physikalische Form besitzt, gelingt mir das nicht. Ich laufe durch die Blätter des Baumes und hülle mich ein in ihre feuchte, raffinierte Schönheit. Sieh da, ich betrete ein Blatt, wunderbar! Ich rutsche in seinem Inneren herum, in seinen Adern. Weiter oben bahnen sich Bäche von Wassermolekülen ihren Weg und laufen am Stengel herunter. Ich umkreise sie einen Augenblick, um zu sehen woher sie kommen, aber es ist zu weit weg. Ich bewege mich leicht nach unten, direkt in den Strom der Moleküle. Sie schwimmen überall um mich herum und umarmen meine Person wie tausend Engelchen, die mich willkommen heißen. Ich folge ihnen nach unten im Strom, über den Stengel des Blattes hinaus, über den Gipfel des Berges hinaus, über das Paradies hinaus in einen raschen Sonnenuntergang. Der Tag geht über in die Nacht." M. J. Jones, cit. Dagegen beschreibt Lévy seinen Gang durch den Baum folgendermaßen: "Sobald ihr mit der Rinde in Kontakt kommt, dringt ihr ins Innere ein und als wäret ihr ein mit Gefühl begabtes Molekül durchlauft ihr die Adern, in denen die Lymphflüssigkeit fließt. Wenn ihr Euch bemüht tief zu atmen, dringt ihr in das Innere des Baumes bis zu den Blättern ein. Umgeben von hellgrünen Chlorophyllkapseln seid ihr im Inneren eines Blattes gelandet, wo ihr dem komplizierten Tanz der Photosynthese beiwohnt." P. Lévy, Cybercultura, cit., S. 44.
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64. C. Davies, "Landscape, Earth, Body, Space and Time in the Immersive Virtual Environments Osmose and Ephemere", www.immersence.com/publications/char/2003-CD-Women-Art-Tech.html.
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65. Zitat aus der Webseite von Osmose, www.immersence.com/osmose/index.php.
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66. De Kerckhove, Text seines Beitrage bei "Landscape in Motion - La Generazione delle Immagini 5", organisiert von Roberto Pinto, Milano 1998 - 1999, www.undo.net/Pinto/gene5/kerk.htm.
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67. M. Pesce, "Osmose en Ik/Osmose and Me", In: Wave, n. 17, März-April 1996, www.immersence.com/publications/1996/1996-MPesce.html.
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68. Diese Absicht ist allerdings nicht im idyllischen oder im religiös spirituellen Sinne zu verstehen. Davies wehrt sich entschieden gegen eine Interpretation ihres Werkes im Sinne einer Idealisierung der Natur, der dem New Age-Zweig der Technokultur zuzurechnen wäre. Sie ist sich aber bewusst, dass bei einigen Personen eine solche Lesart entstehen könnte. Die Künstlerin ist überzeugt, dass das Eintauchen in Osmose eine auf den Körper zentrierte menschliche Erfahrung darstellt, die aber zugleich in Wirklichkeit so intim und subjektiv ist, dass sie Raum für ganz persönliche Interpretationen bietet. Vgl. E. Davis, "Osmose", In: Wired, vol. 4, n. 8, August 1996, www.wired.com/wired/archive/4.08/osmose.html. Das Zitat von Davies stammt aus K. Deepwell, "Reverie, Osmose and Ephemere: Dr. Carol Gigliotti interviews Char Davies", In: n.paradoxa, international Feminist art journal, vol. 9, (Eco)Logical, 2002, www.immersence.com/publications/2002/2002-CGigliotti. html.
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