Rahmenlos | Haltlos

»The digitalization explodes the frame, extending the image without limit not only in every spatial dimension but into a time freed from its presentation as variant series of (virtual) images. In this sense, the digital image poses an aesthetic challenge to the cinema, one that calls for a new >will to art< and one whose call is answered by the neo-Bergsonist embodied aesthetic of new media art.« [70]

Vor allem Lev Manovich hat vor Mark Hansen das »framing« als eine der großen Veränderungen in der digitalen Bildproduktion benannt und in The Language of New Media geschrieben: »[T]he image, in its traditionel sense, no longer exists! And it is only by habit that we still refer to what we see an the real-time screen as >images<.« [71] Was sich also verändert hat ist die Basis der Produktion. Die Superstruktur, also die Oberfläche der Bilder, die wir immer noch sehen und lesen, ist hingegen noch intakt und durch die neue Produktionsbasis nicht angegriffen. Mark Hansen bezieht sich nun in seiner New Philosophy ausführlich auf Manovichs Ansatz, um sich, wie er schreibt, in seinen Erwartungen jedoch enttäuscht zu sehen. Denn Manovich vertritt in seinen Augen letztlich wieder einen humanistischen Standpunkt, da für ihn Bilder immer nur in ihrer Beziehung zu einem Betrachter (consumer) relevant und darüber hinaus immer filmische Bilder sind, die wahrgenommen und interpretiert werden. Es gelingt Manovich nicht, wie Hansen betont, seine viel versprechende Unterscheidung zwischen neuen und alten Bildern tatsächlich theoretisch zu fassen, vielmehr reduziert er das Neue als bloße Verstärkung des Alten.[72] Manovich verkenne deshalb das Spezifische der digitalen Bilder völlig, weil er am Primat des Kinematografischen festhalte. Im Unterschied jedoch zum klassischen Kino gebe es bereits in der präkinematografischen Phase technische Optionen, in denen sich Wahrnehmung und Taktilität verbinden: im Stereoskop, im Panorama, beim Mutoskop — überall müsse der Betrachter Hand anlegen, sich bewegen, positionieren, um entsprechende Bilder sehen zu können, er müsse sich also mit körperlichem Einsatz in eine entsprechende Rezeptionshaltung manövrieren. Dies ist heute, wie Hansen weiter ausführt, mit virtuellen Realitäten vergleichbar, wie Computerspielen und Simulationsumgebungen, die deshalb eine neue Philosophie erfordern, die den Körper mit seiner Sensualität als Handlungsinstanz in Verbindung setzt. Hierfür bietet sich die Philosophie von Henri Bergson an, so Hansen, die die verschiedenen Bild-Register immer und ausschließlich mit dem affektiven Körper in Verbindung begreift.[73]

Hansen setzt in seiner New Philosophy nicht ausschließlich Bergsons These vom affektiven Körper in Bezug zu den digitalen Medien, sondern er unterzieht im selben Atemzug Deleuzes Kinotheorie einer strengen Kritik. Deleuze habe nämlich, im Unterschied zu Bergson, den Affekt vom Körper losgelöst und diesen dem technischen Procedere überantwortet. Für Hansen hat Deleuze den Affekt völlig anders als Bergson interpretiert, indem er ihn als Modalität der Wahrnehmung und nicht mehr als autonome Modalität des Körpers begreift. Deleuze löst also den Affekt vom Körper und überantwortet ihn dem Bewegungsbild. Damit jedoch werde der Affekt außerhalb des Subjekts angesiedelt und zu einer Frage der Technik. Hansen hingegen zitiert neue Entwicklungen in den Neurowissenschaften, die belegen sollen, dass der Körper — wie es Bergson schon beschrieben hat —Information rahmt. Denn bei Bergson heißt es, dass Wahrnehmung ohne Affekt nicht möglich ist, wenn man bedenkt, »daß unser Körper kein mathematischer Punkt im Raum ist, daß seine virtuellen Handlungen sich mit den aktuellen vermengen und durchdringen, mit anderen Worten, daß es keine Wahrnehmung ohne Empfindung gibt. Die Empfindung ist demnach das, was wir vom Innern unseres Körpers dem Bilde der äußeren Körper zufügen; was wir also, wollen wir das Bild wieder in reiner Gestalt bekommen, zuvörderst von der Wahrnehmung zu sondern haben«.[74]

Das heißt für Hansen, dass der Körper des Betrachters für die Rezeption digitaler Bilder nicht nur von neuer, sondern von ausschließlicher Zentralität ist. »In a very material Sense the body is the >coprocessor< of digital information.«[75]

Auch Ursula Frohne hat in ihrer Analyse von Video-Installationen[76] das deframing als signifikant für ein neues Zuschauerverhalten ausgemacht. Das Sich-Auflösen des Bilderrahmens führt zur Frage nach dem »framing of the viewer« sowie zur Beschreibung einer anderen, neuen Weise des Schauens oder Betrachtens, wie sie ausführt:

Forest Grid, Osmose
Abb 03 . Char Davies, Forest grid, from Osmose, 1995.
Digital image captured in real-time
through head-mounted display during
live performance.
»Die Position des Betrachters, die bislang im Museum einen definierten Bezugsrahmen besaß, verliert ihre Sicherheit gegenüber dem Gegenstand der Rezeption aufgrund der Herausforderung an die eigene Syntheseleistung unter den Bedingungen der Zeit bei der Bilderfassung. Die darin begründete, fundamentale Instabilität des Zuschauers, die im übrigen auch durch dessen Bewegungsfreiheit vor und in den Videoinstallationen noch verstärkt wird, ist ein Hauptcharakteristikum für den paradigmatischen Wechsel von einer von der visuellen Zentrierung auf das Werk bestimmten musealen Inszenierung zu einer auf den Betrachter übertragenen Verantwortung.«[77]

Während Frohne jedoch lediglich von einer Verantwortung spricht, die an die Betrachter delegiert wird, so dass die Videoarbeiten im eigentlichen Sinne erst durch ihre Syntheseleistung vollendet werden, hat Hansen hierauf eine knappe, klare Antwort: Die Produktion des framing erfolgt »in and through our own bodies«.[78]

Die Arbeiten der Medienkünstlerin Char Davies spielen für Hansen eine ganz besondere Rolle. Osmose[79] (Abb. 03) und Ephémère[80] (Abb. 04) sind typische Beispiele einer immersiven Kunst. Die Besucher werden aufgenommen, umfangen, es wird ihnen ein überwältigendes Naturschauspiel geliefert, wobei ihre Körper selbst zum fühlbaren Durchgangsportal werden. An diesen Arbeiten demonstriert Hansen, wie Wahrnehmung durch und durch taktil strukturiert ist. Davies' Installationen stellen für ihn die radikale Verschiebung von einem anfänglich falsch verstandenen, visuell dominierten, Interface zu einem »bodily or affective interface« [81] dar.

Mit dieser Ansicht ist er nicht allein. Auch auf der ars electronica 2005 wurde Char Davies' Arbeit als Manifestation queerer Hybride gefeiert, nicht als affektive Verkörperung, jedoch als »Wiederverkörperung«.

Forest Strem, Ephémère
Abb 04.  Char Davies, Forest Stream, from Ephémère, 1998.
Digital image captured in real-time through head-mounted display during live immersive journey/performance.
»Im virtuellen Raum können dies unregelmäßige Spiegelungen, Spiralbögen und Herumtreiben sein — und die überraschende kulturelle Freiheit, die von Körpern ausgeht, die nach Herzenslust atmen, dahintreiben, kriechen, fliegen und frei in elementare Räume fallen können.« [82]

Das Selbstverständnis der Künstlerin unterstreicht diese Interpretation einmal mehr.[83]

[...]

Notes

70. Mark B. N. Hansen: New Philosophy for New Media, S. 35.
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71. Lev Manovich: The Language of New Media, Boston 2001, S. 100.
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72. Vgl. Mark B. N. Hansen: New Philosophy for New Media, S. 32 f.
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73. Siehe hierzu ausführlicher das 3. Kapitel.
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74. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991 (1896), S. 45.
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75. Tim Lenoir: »Foreword«, in: Mark B. N. Hansen: New Philosophy for New Media, S.xxvi.
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76. Ursula Frohne: »That's the only now I get — Immersion and Participation in Video-Installations by Dan Graham, Steve McQueen, Douglas Gordon, Doug Aitken, Eija-Liisa Ahtila, Sam Taylor-Wood«, in: www.medienkunstnetz.de, 19.06.05.
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77. Ebda.
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78. Mark B. N. Hansen: New Philosophy for New Media, S. 76.
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79. Osmose, 1995, ist eine immersive, interaktive virtual reality-Installation mit 3D-Computergraphiken und 3D-Sound; die Besucher tragen ein am Kopf befestigtes Display, ein real-time motion tracking, das auf Atmung und Balance basiert.
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80. Die Ikonographie von Ephémère basiert auf der Natur als Metapher. Archetypische Elemente wie Fels und Fluss verbinden sich mit Körperorganen, Knochen und Blutgefäßen. Diese Verbindung soll darauf verweisen, dass es eine unterirdische Beziehung, einen Austausch zwischen dem Inneren des Körpers, seiner Materialität, und dem Inneren der Erde gibt. Das Projekt ist vertikal in drei Ebenen strukturiert. Landschaft, Erde, das Innere des Körpers. Beide Projekte unter: www.immersence.com.
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81. Mark B. N. Hansen: New Philosophy for New Media, S. 76.
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82. Carolin Guertin: »Queere Hybriden. Kosmopolismus und verkörperte Kunst«, in: Hybrid. Living in Paradox, ars electronica, Ostfildern-Ruit 2005, S. 170-173, hier S. 173.
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83. »As an artist, I [...] have two choices: I can either unplug and never go near a computer again or I can choose to remain engaged, seeking to subvert the technology from within, using it to communicate an alternative worldview. My strategy has been to explore how the medium/technology can be used to >deautomatize< perception [...] in order that participants may begin to question their own habitual perceptions and assumptions about being in the world, thus facilitating a mental state whereby Cartesian boundaries between mind and Body, self and world begin to slip.« Mark B. N. Hansen: »Embodying Virtual Reality: Touch and Self-Movement in the Work of Char Davies«, in: Critical Matrix: The Princeton Journal of Women, Gender and Culture, 2004, Vol. 12 (1-2), S. 112-147.
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Last verified: August 1st 2013.