Seitdem die Bildwelten des Computers interaktiv und in Echtzeit verändert werden können, ist eine vollkommen neue Kunstform entstanden. Der Betrachter, der ehemals passiv vor einem Kunstwerk reflektierte, kann nun im virtuellen Datenraum aktiv sein individuelles Verhalten, seine Emotion, indirekt gar seine Persönlichkeit in die entstehenden Bilder einfließen lassen.
Intensiv leuchten die Farben einer weiten Wüstenlandschaft. Am Horizont tauchen Gruppen von Hausern auf Sobald ich mich dem ersten Dorf genähert habe, wird deutlich, daß jede der Blockhütten verbrannt ist. Alles ist stumm, öde und verlassen. Dann sind Stimmen zu vernehmen. Es sind Zeugnisse von Verbrechen. Sie gehören den Opfern einer ethnischen Säuberung – vergewaltigten Frauen und ihren Häschern. Jenny Holzers VR-lnstallation World #2 von 1993/94 thematisiert engagiert die Grauen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Der Betrachter sieht dies nicht im Fernsehen, er ist scheinbar präsent – vor Ort Die renommierte amerikanische Künstlerin spielt die suggestiven Eigenschaften des Mediums aus. involviert den Betrachter sinnlich und
macht zum stillen, unmittelbaren Zeugen ...
Computergenerierte Bilder werden seit nunmehr 30 Jahren gestaltet. Neben Disziplinen wie Produktdesign und Medizin entdeckte vor allem die Kunst ihr Potential, Nichtexistentes sichtbar zu machen und begleitete damit die Genese Virtueller Realitäten, auch wenn diese zunächst unbetretbar und unbelebt erschienen. Seit Ende der 80er Jahre vermitteln neue Interfaces die Bilder dreidimensional: HMD, BOOM oder jüngst die CAVE [1], Die Distanz zum Bild wurde aufgebrochen und der illusionäre Eindruck geschaffen, in den Bildraum einzutauchen. sich dort in Echtzeit zu bewegen und Veränderungen vornehmen zu können. Innerhalb der Computerwissenschaft hat sich insbesondere die Präsenzforschung das Ziel gesetzt, die VR-Technik so weit zu entwickeln, daß letztlich alle Sinne mit illusionärer Information versorgt werden und die umgebene Umwelt nicht mehr wahrgenommen, die Immersion in die Illusionswelt vollkommen wird [2].
Virtuelle Meditation
Seitdem die uralte Allianz von Kunst und Wissenschaft eine Renaissance erlebt, sind Künstler an den Forschungen zur Virtuellen Realität (VR) und Künstlichen Intelligenz (KI) in vorderster Lime beteiligt: so die 42jährige Kanadierin Char Davies, die in Montreal unter dem Dach des Programmanbieters SoftImage ein neues Kapitel der VR-Kunst öffnete. Osmose (1995) ist die zur Zeit avancierteste, millionenteure Simulation von einem Dutzend umfangreich verzweigter Natur- und Texträume – der visuelle State of the Art des neuen Genres.
Gegenüber herkömmlichen, recht grobschlächtigen Bildern kantig-zitternder Polygon-Ästhetik erblickt man in Osmose – wie im Weichzeichner – phosphoreszierende Lichtpunkte, die aus dem Dunkel aufglimmen. Sanft und fließend verlaufen die Übergänge zwischen den Welten. Wie ein Taucher gleitet der Betrachter einsam durch abgründig-ozeanische Wassertiefen, flirrende Schwaden errechneter Nebelbänke, Insektenscharen und das Dickicht dunkler, doch kristallin schimmernder Wälder. Man gelangt gar unter die Erde und schließlich in den Mikrokosmos eines opalschimmernden Ahornblattes. Alles, bis ins Innere hinein, ist transparent und permeabel. Dennoch zielt die Künstlerin nicht darauf, Natur zu ersetzen. Ihre Repräsentationen erscheinen weder realistisch noch abstrakt. Osmose ist eine mineralische und vegetabile, eine fluide, ungreifbare Sphäre, ein nicht-cartesianischer Raum. Davies eröffnet räumliche Erfahrungen neuer An. Der Betrachter kann jedwede Perspektive einnehmen, ob radikale Untersicht, welche die Objekte in kolossaler Größe erscheinen läßt oder Aufsicht. die Überschau und Distanz eröffnet.
Das Interessanteste' Indem die Künstlerin dem Betrachter den Eindruck von nahezu leiblicher Anwesenheit verschafft, bewirkt sie ein Gefühl meditativ-kontemplativer Versenkung in die simulierten Bilder. So scheint mit Osmose zum ersten Mal die psychologische Potenz der neuen Illusionskunst auf. Viele Teilnehmer sprachen von ‘kontemplativer Ruhe’, ‘faszinierender, erhabener Tiefe’ und ‘milder, trancehafter Geborgenheit’. Durchstöbert man die entsprechenden Diskussionslisten im Internet, findet sich dieser Eindruck nahezu durchweg bestätigt. Auch wenn diesem Vokabular an die Kitschgrenze der Esoterik heranreicht, bezeugt es den Zentraleffekt der Virtuellen Realität: die suggestive Anwesenheit in einem totalen Bild. Dies bewirkt bei Osmose eine mentale, gar meditative Versenkung.
Die Illusion entsteigt den mächtigen Speichern dreier Silicon-Graphics-Onyx-Workstation 5 (SGI), dem Rolls- Royce der Hardware – Rechner die normalerweise für militärische Simulationen oder Spielfilmsequenzen eingesetzt werden – Kosten: weit über eine Million US-Dollar. 20 000 Zeilen Programmcode ermöglichen das Ablesen der Bewegungssensoren, die Echtzeitberechnung der Bildkörper sowie die Kontrolle des Raumklangs, den der Komponist Rick Bidlack aus zwei ‘gesampelten’ menschlichen Stimmen zu einem sinfonischen, kontemplativen Klangornament arrangierte. Es mag überraschen, daß im Bereich der VR-Kunst, wo sonst Teams von zehn Programmierern keine Seltenheit sind, hier nur drei Personen mit Entwurf, Programm und Berechnung sechs Monate lang werkten.
1987 war Davies bei ‘SoftImage eingestiegen; damals eine typische Garagenfirma mit drei Angestellten, 1994 auf 200 Mitarbeiter angewachsen, wechselte das Unternehmen, deren Programme zum Beispiel den Sauriern des Jurassic Park so eindrucksvoll Leben eingehaucht hatten, für 130 Million US-Dollar den Besitzer. Der hieß fortan Bill Gates und sieht bekanntlich in der strategischen Verbindung von stark beschleunigtem Internet und VR die Zukunft.
Das natürliche Interface
Brisant und wegweisend vor allem ist Davies' Anliegen, ein ‘natürliches Interface’ zu konstruieren. In der Tat: Der ‘Eintauchende’, als den die Künstlerin den Betrachter gerne bezeichnet, kontrolliert die Navigation durch den Datenraum. Dies geschieht durch einen leichten, mit Sensoren gefütterten mittelalterlich wirkenden Brustharnisch aus schwarzem Leder der vor jeder Reise ins Virtuelle umgeschnallt wird und die Körperatmung sowie jede reale Bewegung an den Rechner meldet. Die entsprechende virtuelle Optik, die den Schein von Bewegung im Bildraum erzeugt folgt unmittelbar nach 1/30 sec. in ‘Echtzeit’ Ganz wie beim Tauchen steigt man mit gefüllten Lungen aufwärts. Eine konzentrierte, gleichmäßige Atmung bewirkt den Eindruck ruhiger Balance. Diese Methode läßt jeden eine individuelle Reise erleben. Die Eingebung zu dieser fein tarierten, körperintimen Synthese aus Technik und Organik kam der passionierten Taucherin Davies – man ahnt es – unter Wasser. Resultat: ein erstaunliches Gefühl leiblicher Präsenz. Psychologische Tests haben gezeigt: Je intensiver ein Teilnehmer in einer Virtuellen Realität interaktiv und emotional involviert ist, desto weniger wird die berechnete Welt als Konstrukt denn als persönliche Erfahrung aufgefaßt – dies galt bislang eher für den simulierten Luftkampf.
Künftig kann eine weitere Steigerung der Immersion von einer Repräsentation des Betrachters im Illusionsraum ausgehen. welche die unbestimmte Größenrelation im Bild aufhebt. Je größer die Übereinstimmung des Wahrgenommenen mit den erwarteten oder wahrscheinlichen Phänomenen, desto eher wird das Gesehene für real gehalten. Diesem Credo folgt die VR-Forschung bis in scheinbar banale Details, wie dem Bestreben, die eigene Nase, das die längste Zeit im Leben unbewußt wahrgenommene Objekt, sichtbar zu machen. Diese Rückgewinnung des Körpergefühls über eine Glaubhafte virtuelle Verkörperlichung steigert den Illusionismus. Dem stehen ungleich abstraktere, weniger immersive VR-Installationen entgegen, wie zum Beispiel von Ulrike Gabriel (Frankfurt), der Kölner Gruppe ‘Knowbotic Research’ und Monika Fleischmann (GMD/St. Augustin) und Wolfgang Strauss. Indem sie sich dem Suggestionspotential des Mediums entziehen, setzen sie sich mit dieser Problematik auseinander.
Lebende Bilder
Neben Davies ragt vor allem die 32jährige Österreicherin Christa Sommerer aus der polyglotten Szene heraus. Mit ihrem Partner Laurent Mignonneau hat sie in den letzten Jahren einen geradezu kometenhaften Aufstieg erlebt. Gemeinsam arbeiten sie am Advanced Telecommunication Research Laboratories (ATR) in Kyoto (Japan) und am National Center for Supercomputing Applications (NSCA) in Illinois am nächsten Entwicklungsschritt: der ‘Belebung' des Datenraumes mit simulierten Pflanzen und virtuellen Wesen – subjekthafte, interaktive Softwareagenten. Vom konservativen Kunstpublikum fast unbemerkt, beschickten sie allem in den letzten zwei Jahren über 30 Ausstellungen zwischen Norwegen, Korea und Kalifornien. Denkt man an ihren kleinen Stand auf der Hamburger Mediale vor gerade mal vier Jahren, so wirkt dies beinahe schon wie Erinnerung an eine andere Epoche.
In ihrer interaktiven Echtzeit-Installation A-Volve (1994/95) eröffnen sie Besuchern zum ersten Mal die Möglichkeit, virtuelle Wesen zu erzeugen und mit diesen zu interagieren. Die Kreaturen werden am Touchscreen skizziert, mit einem hochauflösenden Grafikprojektor, Barcodata 801 (sic: Barco Data 801), in ein wassergefülltes Bassin projiziert und dort den Regeln von Evolutionsprogrammen unterworfen. Um im virtuellen Raum Lebensenergie zu gewinnen, fressen sie sich gegenseitig, zeugen Nachkommen und vererben gewissermaßen ihre Gene inklusive Mutationen. Speziell von Mignonneau entwickelte genetische Algorithmen machen die Erscheinungen unvorhersagbar, unwiederholbar und vergänglich.
Bewegung und Verhalten der dreidimensionalen Softwareagenten hängen von ihrem Design ab. Bestimmte Formen schwimmen schneller, können sich gegen andere durchsetzen und ihre Erbmasse weitergeben. Die Installation ist darauf angelegt. immer besser angepaßte Kreaturen hervorzubringen [3]. Es gilt das Prinzip ‘survival of the fittest' Die Schwachen werden gefressen oder verhungern. Der Betrachter kann ‘Gott spielen’, neue Wesen kreieren, das simulierte Ökosystem unter seinen Einfluß bringen: Durch eine An Streicheln kann man die Wesen anlocken, sie festhalten, ihre Fortpflanzung manipulieren, sie ‘töten’ und so weiter. Dies funktioniert über ein Kameraauge, das die Gesten der Nutzer an eine SGI-Onyx-Workstation meldet, die mit den entsprechenden Bildern antwortet.
Im April dieses Jahres präsentierten Sommerer und Mignonneau im ICC Museum in Tokio mit Life Spacies ein System, das nun auch per Internet weltweit angesteuert und manipuliert werden kann (http://www.mic.atr. co.jp/~christa/LifeSpaciesFolder/LifeSpacies.html [link defunct 2017]). Jeder Besucher soll selbst zum Erzeuger neuer Wesen werden und mit diesen interagieren. Die Genotypen der ‘stärksten’ Berechnungen werden durch Evolutionsmechanismen verbreitet und simulieren auf diese Weise Arten.
Der Beginn einer faszinierenden, aber auch bedenklichen Entwicklung: Die Forschung zielt auf einen ‘belebten’ virtuellen Bildraum, der um so realer empfunden wird, je ‘natürlicher’ das verbindende Interface gestaltet ist. Je stärker die aktiv und unmittelbar erfahrene Illusion, desto intensiver die Immersion, das Eintauchen in das digitale Werk. Die Computerwissenschaftlerin Carrie Heeter bezeichnet diesen Effekt, der das Gefühl im Bild- raum zu sein noch erweitert, als social presence [4]. Vom Künstler verlausen diese neuen Möglichkeiten dramaturgisches Geschick und die Kompetenz, szenisch und strategisch zu choreographieren. Mit einer systeminternen Zielvorgabe könnte der Interakteur manipulativ gelenkt werden, und zwar ohne es zu bemerken [5]. Im Wechselspiel von Interaktionsfreiheit und dramatischem Handlungsfluß einerseits, dem sich der Interakteur fügen muß andererseits, läge seine emotionale Involvierung begründet.
Spiel als Kunst
Für die Kunst entsteht somit eine ganz neue Situation: Der Künstler gibt einen Teil seiner Kontrolle über das Werk ab und bietet dem Betrachter einen Rahmen von Eingriffsmöglichkeiten. Dieser Palette entsprechend gewinnt das Publikum Gestaltungsmacht, wird zum essentiellen Miterzeuger des Werkes: zum ‘Künstler für fünf Minuten’. Der ehemals ‘passive’ Betrachter kann zum aktiven Interakteur werden, der im Rahmen der gebotenen Freiheitsgrade seinen Phantasien und Assoziationen spielerisch freien Lauf läßt, ja durch Auswahl und Neukombination selbst zum Schöpfer von Kunst wird. Je stärker die im Spielsystem integrierten Freiheitsgrade qualitativ und quantitativ zunehmen, desto deutlicher verschiebt sich das Verhältnis kreativer Anteile vom Künstler in Richtung Spieler. Damit erfüllt die Virtuelle Kunst uralte Kunstutopien, die bis in die Antike zurückreichen und in Schillers Gedanken zum Spiel und Huizingas Essay Homo Ladens ihre prominentesten Fürsprecher besitzen. In einem fortgeschrittenen Stadium könnte diese Kunst die Feinheiten menschlicher Motive ermöglichen. Je offener die Systemrahmen, desto intensiver können die Spieler reflektiert und subtil abgestimmt an der Schaffung des Werkes beteiligt werden und so eine ernstzunehmende Gemeinschaftskultur hervorbringen. Eine Kultur des Spiels, weg vom auratisch verehrten Werk des einzelnen, hin zu einem Momentwerk, welches sich aus den individuell schöpferischen Beiträgen seiner Teilnehmer zusammensetzt.
Mit der Unvorhersehbarkeit des Endergebnisses wächst den Nutzern ein konstruktives Element zu. Das virtuelle Werk erhält erst durch seine Benutzung ‘Leben’. Die ‘belebte’ Virtuelle Realität kann, gerade durch die künstlerische Illusion, zum Übungsfeld und Experimentalmedium für den Realraum werden.
Der Spielgedanke führt zwingend zur Formulierung und Herausbildung einer ‘Spielerkompetenz’ Hier wäre dann auch der Ansatzpunkt für eine öffentlichkeitswirksame Exponierung des Spiels: Erst der virtuose Spieler, der sich innerhalb der technischen Grenzen und der Offenheit der Freiheitsgrade bewegt, vermag durch unnachahmliche Interpretation beziehungsweise Kreation das Spiel für Außenstehende attraktiv zu machen. Er macht dieses Spiel zu einem unverwechselbaren Original. Damit könnte ein Mechanismus in Gang gesetzt werden, der zum Beispiel in der populären Musik den Star hervorbrachte.
Evolution der Netze?
Spätestens auf der letzten Ars Electronica (Linz 1996) hat die Diskussion die technischen Optionen weitergedacht. Der Biologe Richard Dawkins überführte seine von Fachkollegen nie ganz ernst genommene Evolutionstheorie der Meme ins Feld der Computersimulation. Analog zu Genen übertrügen Meme die kulturelle Erbmasse über die Generationen. Die evolutionären Prozesse in den Computernetzen, die nun unter anderem durch die Anwendung genetischer Algorithmen in Gang kämen, würden schon bald künstliche Systeme erzeugen, die sich autonom entwickeln. Sprache und Gesten erkennen, sowie erinnerungs- und lernfähig seien, um schließlich auch kulturelle Einheiten zu transportieren: subjekthafte Softwareagenten [6], die ihre Komplexität durch den Evolutionsmechanismus steigern, durch Selektion und Kombination, um schließlich Wesen künstlicher Intelligenz hervorzubringen. So hoffen zumindest die KI-Forscher [7]. Im Raum steht die Utopie von Intelligenzen, die das menschliche Potential weit überträfen. Was von diesen düsteren Szenarien auch immer zu halten ist: klar erscheint, daß die virtuelle Bildkultur ihren intensivsten Schub in Richtung Illusion nicht durch fleißige Ingenieure erfahren wird, die minutiös jedes Detail aufwendig berechnen, sondern durch kombinatorische Prozesse, die unvorhersehbare Formen erbringen.
Illusion schlechthin
Für die Kunst gerät in den "belebten’ virtuellen Environments ein sehr fragiler Kernbereich in Bedrängnis: die Distanzgeste des Rezipienten, die eine kritische Reflexion erst ermöglicht und somit – wie der legendäre Kunsthistoriker Aby Warburg einmal schrieb – einen ‘Denkraum’ eröffnet. Je unmittelbarer die Interfaces, desto ausgeprägter ist nicht nur die Gefahr, daß der unsichtbare Teil des ‘technologischen Eisbergs' seinem Anwender verschlossen und unbewußt bleibt, sondern desto intensiver vor allem die illusionäre Entgrenzung mit dem Datenraum. Mit zunehmender Rechnerkraft steigt das Suggestionspotential des Virtuellen, das insbesondere durch die Ideologie eines ‘natürlichen Interface’ erst seine volle psychologisch-manipulative Wirkung entfalten kann. Vor dem Flintergrund des Illusionismus der Virtuellen Realität, welche letztlich auf die illusionäre Ansprache aller Sinne zielt, ist die Auflösung des Interface schließlich auch eine politische Frage.
Totale Bilder werden möglich. schnell und überraschend. Zu diesen könnten Abstand und Eigenrelation verlorengehen, eine Hingabe an rauschhafte Momente. Das ‘technische High’ würde durch Ausschüttung von Endorphinen. körpereigenen morphiumartigen Stoffen, erzeugt. Vorstellbar ist ein technisches Narkotikum mit psychischen und physischen Wirkungen. Information könnte, wie dies der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Wolfgang Clement kürzlich formulierte, zur Waffe werden.
Um sich für die Herausforderungen der sich abzeichnenden Bildrevolution für Wahrnehmung, Kognition und Psyche zu wappnen, ist es von zentraler Bedeutung. Bildkompetenz zu erlangen, eine Schule des Bildes, die vergleichbar mit den für die Sprache notwendigen Hilfsmitteln. Grammatik und Rhetorik. Rüstzeug für den Umgang mit den ‘lebendigen’ Bildern vermittelt. Für Psychologie. Neurologie. Informatik und insbesondere die Kunstgeschichte. die 200 Jahre Bildforschung einbringt, gilt es hier, eng zusammenzuarbeiten.
Die Potentiale der Virtuellen Realität bedeuten für das System Kunst eine Änderung in seinem Wesen. Dies gilt auch, wenn sich die VR-Kunst vorerst in den Beschneidungen der sie tragenden Technik einrichten muß und die immensen Kosten der Geräte eine Verbreitung dieser Kunstform noch verhindern. Somit bleiben vorläufig staatlich geförderte Großforschungszentren, finanzpotente Softwarefirmen und das Sponsoring der sogenannten ‘globalen Spieler' – letztere besitzen ein vitales PR-Interesse – Basis der virtuellen Computerkunst. Man darf aber gespannt sein, wie sich diese Bildkultur bei stark sinkenden Hard- und Softwarepreisen ausbreiten wird; das exponentielle Wachstum der noch weitgehend textbezogenen WWW-Kunst kann Vergleichsmaß sein.
Da in kaum einem Museum die entsprechende Hardware vorhanden ist, wird der Betrachter virtueller Kunst, will er die Interaktivität erfahren, zum reisenden Besucher der Medienfestivals. Erst das Internet wird diese Beschränkung bei entsprechender Steigerung der Datenübertragung in Zukunft aufheben. Dann werden die Kunsträume tatsächlich ortlos, weltweit von beliebig vielen Teilnehmern ansteuerbar.
Für den kreativen Prozeß verspricht die Virtuelle Realität der nachhaltigste Durchbruch seit der Erfindung des Films zu werden. Wenn die Künstler intensiven und kritischen Gebrauch von den technischen Potentialen der VR machen, werden wir Zeugen einer bewegenden Kunst, die ganz neue Wahrnehmungen eröffnet, einer Kunst zwischen befreiendem Spiel und psychischer Manipulation. (ae)
Literatur
[1] Tom Sperlich, Höhlenbewohner, 3D-Umgebung der virtuellen Art, c’t 1/97, S. 78
[2] Lindsay MacDonald u. a. (Hg.), Interacting with Virtual Environments. New York 1994
[3] Vgl. Christa Sommerer und Laurent Mignonneau. Art as a Living System, in: Leonardo, Bd. 30, Nr. 5. o. S.. erscheint Oktober 1997
[4] Carrie Heeter. Being There: The Subjective Experience of Presence, in: Presence. Bd. 1, Nr 2, 1992, MIT/Mass., S. 264 ff.
[5] Vgl. Margret Kelso u.a.: Dramatic Presence, in: Presence, Bd. 2, Nr. 1,1993. MIT/Mass., S. 14
[6] Vgl. Pattie Maes u. a.: The ALIVE System: Full-body Interaction with Autonomous Agents, in: Proceedings of the Computer Animation#95 Conference, Geneva IEEE-Press, 1995
[7] Luc Steels (Hg. u. a.): The Artificial Life Route to Artificial Intelligence: Building Embodied, Situated Agents, Hillsdale, New Jersey 1995
[8] Mary Anne Moser (Hg.), immersed in Technology: Art and Virtual Environments, MIT Press Cambridge/Mass. 1996
[9] ZKM/Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Heinrich Klotz (Hg.). Perspektiven der Medienkunst: Museumspraxis und Kunstwissenschaft antworten auf die digitale Herausforderung. Cantz Verlag, Ostfildern 1996
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